FAQ. Noch Fragen? Arbeitshypothese Grexit

Was bisher nur für eine Drohkulisse gehalten wurde, um Griechenland auf (deutsche) Linie zu bringen, scheint inzwischen bevorzustehen: der Austritt Griechenlands aus der Eurozone. Es herrscht eine paradoxe Situation: Ein Ausstieg aus dem Euro ist rechtlich bisher nicht geregelt. Griechenland könnte nur zur Drachme zurückkehren, indem es die Europäische Union (EU) verlässt. Das will in Griechenland kaum jemand. Die Mehrheit spricht sich für einen Verbleib in der Eurozone aus. Selbst der Vorsitzende des zum Schreckgespenst aufgebauten Linksbündnisses SYRIZA, Alexis Tsipras, macht immer wieder deutlich, dass sein Bündnis nicht aus der Eurozone aussteigen will.

Bei der gegenwärtigen Debatte zeigt sich erneut die disziplinierende Politik gegenüber Griechenland, das Versuchsfeld und Exempel zugleich ist. Die Troika will nicht erlauben, dass Athen vom Sparkurs abrückt. Denn wenn gegenüber Athen Kompromisse bei der Sparpolitik zugelassen würden, gäbe es kaum einen Grund, warum nicht auch Spanien, Portugal oder andere Länder vom eingeschlagenen Sparkurs abweichen können sollten. Insofern wird ein Verlassen Griechenlands der Eurozone immer wahrscheinlicher. Aber wie könnte das aussehen?

Eine schnelle Einführung der Drachme ist kaum möglich. Dass die griechische Zentralbank die Euroscheine über Nacht mit einem Stempel versieht und so eine neue Währung einführt, ist ebenfalls wenig wahrscheinlich. Vermutlich wird es zunächst um eine Parallelwährung gehen. Wie aber könnte diese entstehen?

Mit einer neuen Regierung, einem Ende der Austeritätspolitik und der Forderung nach Neuverhandlungen der Kreditkonditionen könnten die Hilfszahlungen der Troika (teilweise) ausgesetzt werden. Da die Hilfszahlungen vor allem in den Schuldendienst fließen, wäre ein Bankrott Griechenlands die unmittelbare Folge.

Sollten die Schulden nicht mehr bedient werden können, würde die EZB griechische Staatsanleihen nicht mehr als Sicherheiten für Kredite anerkennen, was vor allem griechische Banken betreffen würde. Der zu erwartenden Bankrun und die abzusehende Kapitalflucht würde zum Zusammenbruch des griechischen Bankensektors führen. In Griechenland wurden bereits in den letzten drei Jahren etwa 75 Milliarden Euro aus Angst abgehoben und verschoben.

Auch der Staat könnte in dieser Situation nichts mehr bezahlen – weder Zinsen noch Gehälter für Staatsbediensteten. Allerdings kann der Staat, weil er kein beliebiges Unternehmen ist, sondern Gewalt- und Steuermonopol zugleich, Zahlungsversprechen (Schuldverschreibungen) ausgeben. Sie könnten die Geldfunktionen übernehmen und sich zu einer Parallelwährung entwickeln.

Die »neue« Währung hätte gegenüber anderen Währungen wieder einen Außenwert und würde vor allem gegenüber dem Euro abwerten – bisher wird von etwa 50 Prozent ausgegangen. Die Schulden Griechenlands würden aber weiterhin in Euro laufen. Damit kämen die neue Währung und deren Abwertung einer gewachsenen Schuldenlast gleich.

Die Wirtschaft wäre von dem in der Zirkulation befindlichen Geld abhängig. Es dürfte aber kaum verliehen werden. Rechnungen würden nicht bezahlt werden und die Wirtschaft völlig einbrechen. Zwar könnte die Abwertung die Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen oder den Druck einer inneren Abwertung (Lohnsenkung etc.) verringern, aber eine weitere Verarmung sicher nicht aufhalten. Schließlich würden sich alle Importe verteuern und damit die Inflation anfeuern. Zudem: Eine Abwertung der eigenen Währung, wie sie etwa viele südeuropäische Länder in den 1970er Jahren vorgenommen hatten, führt nicht unbedingt zu einer dauerhaften Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit bzw. weniger Konkurrenzdruck. Zumal Griechenland vor allem mit Industrien in Konkurrenz steht, die nicht in der EU (bzw. Deutschland) zu finden sind.

Auch wäre Griechenland weiterhin von der Geldpolitik der EZB abhängig wie alle europäischen Länder vor dem Euro von der Politik der Bundesbank, so z.B. beim Zinsniveau, das ansteigen müsste, um die Kapitalflucht zu verhindern. Diese Hochzinspolitik würde die griechische Wirtschaft weiter abwürgen. Die Folgen eines Euro-Austritts sind einfach nicht abzusehen. Studien gehen von direkten Kosten von etwa 300 Milliarden Euro für die Eurozone aus (Hilfspakete, griechische Anleihen bei der EZB und Notenbanksalden). Die indirekten Folgen und Kosten sind unklar, vor allem weil niemand weiß, was tatsächlich nach einem Verlassen der Eurozone passieren könnte. Wie bei Lehman Brothers, das von der US-Regierung auch nur zur Abschreckung fallen gelassen wurde, wird man auch dieses Mal erst hinterher schlauer sein – und es dann natürlich um so besser wissen.

Ingo Stützle

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 573 vom 15.6.2012