Aufgeblättert: Keine Krise der Krisenliteratur

Seit Beginn der Krise ist viel geschrieben worden. Nach ersten Erklärungen und historischen Rekonstruktionen erscheinen inzwischen Bücher, die sich von den neueren Entwicklungen einen Begriff machen und nach den politischen und ökonomischen Konsequenzen fragen. Es gibt aber auch AutorInnen, die weiterhin (und zurecht) von einem Bedarf an tiefer gehender und allgemeinerer kapitalismuskritischer Analyse ausgehen. Fast zeitgleich sind zwei über 300 Seiten starke Bücher erschienen, die sich gleichermaßen auf Marx beziehen. Wolfgang Fritz Haug deutet die Krise als erste große Krise des transnationalen Hightech-Kapitalismus, die vergleichbar ist mit der Krise des Fordismus. Ernst Lohoff und Norbert Trenkle von der Krisisgruppe formulieren die kaum überraschende These, dass der Kapitalismus an seine grundlegenden Widersprüche geraten ist, da dem Kapital mit wachsenden Produktivkräften die Quelle des Profits, die Arbeit, abhandenkommt. Die Aufblähung des Finanzmarkts konnte hierbei nur temporär Abhilfe schaffen.

In der Reihe AttacBasisTexte ist von Anne Karras und Steffen Stierle ein Bändchen erschienen, das die Wege in die Eurokrise und mögliche Wege hinaus skizziert. Gut informiert diskutieren die AutorInnen ein ganzes Bündel an Ursachen, die schließlich zur Eurokrise führten, und wie die vorherrschende Krisenpolitik der EU die Dynamik eher verstärkt. Etwas peinlich ist, dass der VSA-Verlag das Coverbild retuschiert hat. Eigentlich sind auf einem Transparent der stalinistischen KKE, das auf der Athener Akropolis angebracht wurde, deren Kürzel sowie Hammer und Sichel zu sehen. Auf dem Einführungsbändchen ist auf dem Transparent hingegen nur »PEOPLE OF EUROPE RISE UP« zu lesen.

Eine seit 2009 arbeitende Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« hat mit ihrem Sammelband einen wichtigen Beitrag zur weiteren Verständigung über die Eurokrise geliefert. Neben einem ersten Zwischenbericht der Forschungsgruppe, der ihr analytisches Instrumentarium vorstellt und diskutiert, zeichnet Lukas Oberndorfer Europas Entwicklung zu einem autoritären Wettbewerbsetatismus nach. Er zeigt, dass in der Krise zwar Instrumente einer europäischen Wirtschaftspolitik entwickelt wurden, diese aber keine politische Kursänderung markieren – vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Die Politik setzt weiterhin auf Wettbewerbsfähigkeit zwischen den europäischen Ökonomien, und die Zustimmung der Subalternen wird verstärkt autoritär hergestellt.

Diese Politik ist vor allem durch Lobbygruppen geprägt, in denen Kapitalinteressen organisiert und propagiert werden. Selbst die nach eigenen Ansprüchen undemokratische EU ist für diese sozialen Kräfte besonders zugänglich. Das zeigt der Beitrag von Pia Eberhardt. Aber auch die Subalternen beginnen sich zu organisieren bzw. suchen nach einer adäquaten Form. Gerade weil es nahezu egal ist, welche Parteien in den jeweiligen Ländern regieren und die parlamentarische Demokratie ausgehöhlt ist, werden neue Formen der Willensbildung und Öffentlichkeit gesucht. Das zeigt ein Beitrag zu Spanien.

Die Zeitschrift Widerspruchaus der Schweiz hat sich in den letzten Jahren mehrmals den Folgen der Finanz- und Weltwirtschaftskrise gewidmet und das in einer Themenbreite, die für ein Printerzeugnis aus einem Nicht-EU- bzw. Euroland erstaunlich ist. Die aktuelle Nummer von mehr als 200 Seiten geht in 15 Beiträgen auf die Eurokrise und die Herrschaft der Finanzmärkte ein. Gleich mehrere Beiträge diskutieren die wirtschaftspolitische und autoritäre Zurichtung der EU im Zuge der Eurokrise durch die Troika aus EU, EZB und IWF und geben zusammen einen sehr guten Überblick über das europapolitische Regime der autoritären Stabilisierung.

Klaus Dräger zeigt, wie Deutschland seine Stabilitätspolitik europäisierte und de facto auch die Agenda 2010, die einst unter Rot-Grün beschlossen wurde. Die anderen Beiträge zeigen Griechenland zwischen Massenmobilisierungen und der Erosion des politischen Systems sowie die konkrete Ausgestaltung der Kreditabkommen. Die weiteren Beiträge diskutieren vor allem die gewerkschaftlichen Optionen und Spielräume vor diesem Hintergrund der Austeritätspolitik.

Die sozialwissenschaftliche Zeitschrift Prokla geht in ihrer neuen Ausgabe der Frage nach, inwieweit Deutschland als Krisengewinner bezeichnet werden kann. Die Analysen des Modells Deutschlands zeigen, dass das besondere ist, dass in Deutschland der ökonomischen Krise keine politische folgte. Es herrscht Ruhe und Ordnung. Und: Das Modell Deutschland und die Exportorientierung treiben Europa immer tiefer in die Krise und sollten allein deshalb kein Vorbild für andere EU-Staaten sein.

Die Wirtschaftskrise in Deutschland diskutiert ein Beitrag anhand der Wertschöpfungs- und Zulieferketten der Automobilindustrie. Hierbei zeigt sich, dass in der Krise das Leitbild des Shareholder-Value in Konflikt mit den Unternehmen gerät: Die Interessen der Finanzinvestoren geraten mit den Strategien der Unternehmensführung in Widerspruch, die die Wirtschaftlichkeit nach anderen Kriterien als die des Finanzmarkts herstellen will. Neben weiteren Artikeln beschäftigen sich zwei lesenswerte Artikel mit Spanien und der Bewegung des 15. Mai – die scheinbar zum schillernden Vorbild der Krisenproteste in der EU geworden ist.

Ingo Stützle

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Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg): Die EU in der Krise. Zwischen autoritärem Etatismus und europäischem Frühling. Westfälisches Dampfboot, Münster 2012. 165 Seiten, 15,90 EUR.
Wolfgang Fritz Haug: Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise. Argument, Hamburg 2012. 366 Seiten, 19,50 EUR.
Anne Karrass und Steffen Stierle: EuropaKrise. Wege hinein und mögliche Wege hinaus. VSA-Verlag, Hamburg 2011, 94 Seiten, 7 EUR.
Ernst Lohoff und Norbert Trenkle: Die große Entwertung. Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind. Unrast, Münster 2012. 304 Seiten, 18 EUR.
Prokla 166. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 2012. 172 Seiten, 14 EUR.
Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik, Nr. 61, 2011. 216 Seiten, 16 EUR.

Erschinen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 571 vom 20.4.2012