Die EU nach der Euro-Krise. Vom Tod des Neoliberalismus zur autoritären Stabilisierung

Für viele Linke brachte die jüngste Weltwirtschaftskrise Genugtuung. Wenn emanzipatorische Kräfte in den letzten Jahren schon so wenig bewegen konnten, so blieb zumindest eine Gewissheit: Wir hatten recht! Dass eine ökonomische Krise jedoch keine politische Krise bedeuten muss, wurde schnell offensichtlich. Slavoj Žižek brachte es in einem Interview auf den Punkt: „Der autoritäre Kapitalismus ist der Gewinner der Krise.“ (zeit.de, 25.8.11) Das zeigte sich insbesondere in der EU.

Im Haus Europa ist Streit ausgebrochen. Mit der Krise der europäischen Integration unter neoliberalen Vorzeichen scheint auch der politische Kitt abhandengekommen zu sein. Niemand übernimmt Verantwortung für Europa als Ganzes, aber alle wollen gleichzeitig das Steuer übernehmen. Vor allem Deutschland ist auf Konfrontationskurs. Aber warum eigentlich? Selbst die Gründungsväter des Euro-Europa, Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl, verlieren mahnende Worte über Merkels Politik. Fehlt der Regierung Merkel einfach nur ein klarer Kurs, wie in den Meinungsspalten der Tageszeitungen zu lesen ist? Oder ist sie inkompetent, wie von den Oppositionsbänken zu hören ist? Für diese Fragen ist ein Blick auf die Geschichte der deutschen Europapolitik hilfreich.

Seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zählte eine gemeinsame Währung zu einem Ziel der Integration. Ziel war immer, die Handelsbeziehungen zu stabilisieren und die Integration des Binnenmarkts voranzutreiben. Bereits Mitte der 1970er wickelten die EWG-Länder die Hälfte ihres Außenhandels untereinander ab. 1978 wurde das Europäischen Währungssystems (EWS) gegründet – unter den Stabilitätsbedingungen Deutschlands. Das EWS war trotz Kooperation durch Währungskonkurrenz gekennzeichnet. Dies war kein Konstruktionsfehler, sondern nicht anders möglich. Es liegt in der Sache der Hierarchie der Währungen, dass Geldfunktionen ungleich verteilt sind.

Die D-Mark war die Leitwährung, andere Währungen mussten sich unterordnen. Handel und Kreditbeziehungen wurden vor allem in D-Mark abgehandelt. Aber auch die Zentralbanken der EWS-Länder mussten sich an der Bundesbank orientieren. Die Stabilität und Stärke der D-Mark hatte zur Folge, dass die EWS-Länder ihre Währungen im Verhältnis zur D-Mark stabilisieren mussten. Das zog u.a. hohe Zinsniveaus nach sich, denn nur so konnten sich die Währungen gegenüber der D-Mark behaupten.

Das bedeutet aber, dass Zentralbanken ihre Geld- und Zinspolitik maßgeblich auf die Stabilisierung der Wechselkurse einsetzen müssen. Damit sank der Spielraum, die Geldpolitik für binnenwirtschaftliche Ziele einzusetzen und durch billiges Geld die Wirtschaft anzukurbeln und so das Beschäftigungsniveau zu erhöhen. Das hatte eine erhöhte Konkurrenzfähigkeit Deutschlands zur Folge. Bei den Lohnstückkosten verschlechterte sich Frankreich zwischen 1978 und 1987 um 5 bis 7 Prozent und Italien sogar um 34 bis 41 Prozent. Dieses Auseinanderdriften drückte sich auch in den sich aufbauenden Ungleichgewichten der Handelsbilanzen aus. Diese Dynamik verschärfte sich mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA), die 1985 den neoliberalen Kurs der europäischen Integration einleitete. Ziel war es, einen einheitlichen Binnenmarkt herzustellen und den Kapitalverkehr völlig zu deregulieren.

Ende der 1980er Jahre verknüpfte Frankreich seine Zustimmung zur Vollendung des Binnenmarktes mit der Forderung, währungspolitische Kompetenzen auf die europäische Ebene zu verlagern. Gegen den Widerstand von Finanzministerium und Bundesbank sprach sich das Auswärtige Amt unter Hans-Dietrich Genscher (FDP) Ende Februar 1988 für einen europäischen Währungsraum und eine europäische Zentralbank aus. Diese außenpolitischen Erwägungen bekamen mit der „Wende“ nochmals Gewicht: Frankreich wollte dem Anschluss der DDR nur zustimmen, wenn Deutschland bereit war, seine D-Mark aufzugeben.

Deutschland akzeptierte das Projekt einer Währungsgemeinschaft aber nur unter bestimmten Bedingungen: Der europäische Währungsraum sollte eine Stabilitätsgemeinschaft sein, die europäische Währung so stark wie die D-Mark. Dafür mussten die politischen Voraussetzungen geschaffen werden. Die Maastrichter Kriterien und der später ausgehandelte Stabilitätspakt führten Verschuldungsgrenzen ein, die die Solidität der neuen Währung sicherstellen sollte. Deutschland verlieh seiner Vorstellung von finanzpolitischer Selbstdisziplin auch dadurch Nachdruck, dass eine No-Bail-Out-Klausel aufgenommen wurde: Euro-Staaten sollten sich nicht gegenseitig aus der Patsche helfen dürfen. Frankreichs Vorstoß, zwei Konvergenzkriterien zum Thema Arbeitslosigkeit in das Vertragswerk aufzunehmen, wurde hingegen abgeschmettert.

Diese Politik der Stabilisierung wird derzeit auf Druck Deutschlands fortgesetzt. Die EU erweist sich ein weiteres Mal als ein Vehikel für die „Durchsetzung des anders nicht ohne weiteres Durchsetzbaren“ (Wolf-Dieter Narr). Beispielhaft zeigt sich dies beim sogenannten Europäischen Semester und dem Euro-Plus-Pakt. Die EZB begrüßt dies in ihrem Monatsbericht vom März: Man müsse die „historische Gelegenheit“ nutzen; vor dem Hintergrund der Euro-Krise bedürfe es „der Schaffung wirksamer Institutionen und der Ausübung gegenseitigen Drucks der Mitgliedsstaaten“. Ziel müsse die „Ausweitung und Vertiefung des bestehenden Rahmens zur haushaltspolitischen Überwachung in der EU“ sein.

Genau dies vollzieht sich im Rahmen des Europäischen Semesters. Mit dem Euro-Rettungsschirm beschloss die Europäische Kommission, in die nationale Haushaltsplanung einzugreifen. Die Europäische Kommission legt zu Beginn des Jahres dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament einen Wachstumsbericht vor und später länderspezifische wirtschaftspolitische Empfehlungen. Diese Vorgaben, die vor allem auf mehr Wettbewerb und „tragfähige Finanzen“ abzielen, sollen von den Mitgliedsstaaten bei der Erstellung des Haushalts berücksichtigt werden. Auch ohne eine europäische Finanzpolitik haben die Budgetdebatten somit eine europäische Dimension. Allerdings geht es hierbei weniger um die Harmonisierung von Wirtschaftspolitik. Gefördert werden soll die Wettbewerbsfähigkeit, gestärkt der Stabilitätspakt, der vor allem ein Ziel hat: Staatsverschuldung verhindern.

Den Euro-Plus-Pakt brachte die Bundesregierung gegen Frankreich auf den Weg. Es ist der Versuch, den Zugeständnissen für die Stabilisierung des Euro eine Verschärfung der Wettbewerbs- und Stabilitätspolitik zur Seite zu stellen. Das offizielle Ziel des Paktes ist die Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung, einen Beitrag für die langfristig tragfähige Staatsfinanzen zu leisten und die Finanzstabilität zu stärken. Dafür soll die EU sogar in die Lohnfindung eingreifen: „Um zu beurteilen, ob die Löhne sich entsprechend der Produktivität entwickeln, werden die Lohnstückkosten über einen Zeitraum hinweg beobachtet und dabei mit den Entwicklungen in anderen Ländern des Euro-Währungsgebiets und in den wichtigsten vergleichbaren Handelspartnerländern verglichen werden. Für jedes Land werden die Lohnstückkosten für die Wirtschaft insgesamt und für jeden wichtigen Sektor bewertet“. Löhne sollen die Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen Länder nicht gefährden, was de facto auf Lohnsenkung hinausläuft.

Aber auch der Sozialstaat gerät ins Visier: Die „Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen“ soll durch die „langfristige Tragfähigkeit von Renten, Gesundheitsvorsorge und Sozialleistungen“ garantiert und verbessert werden. Hierfür sollen die teilnehmenden Staaten Vorschläge machen und jedes Jahr konkrete nationale Verpflichtungen eingehen. Zwar bleiben die Maßnahmen in der Verantwortung eines jeden Landes, allerdings stellt der Pakt einen Kriterienkatalog bereit – Maßstab ist das leistungsstärkste Land. Dass dies Deutschland sein wird, liegt nahe. Hans-Jürgen Urban von der IG Metall bezeichnet dieses „neue institutionelle Arrangement“ als „Regime autoritärer Stabilität“. (1)

Die Verschärfung der Stabilitätspolitik geht vor allem auf Deutschlands Initiative zurück. Die Bundesregierung redete bis Ende 2009 das Problem noch klein und ging innerhalb Europas auf Konfrontationskurs. Merkel dozierte, dass nicht nur Griechenland Defizite aufweise und man das Problem „nicht überbewerten“ solle. Wirtschafts- und Finanzministerium betonten immer wieder, dass Deutschland nicht für das Missmanagement anderer Staaten aufkommen werde – und das zu einer Zeit, als es bereits offensichtlich war, dass Griechenland de facto pleite war. Selbst Ende März, keinen Monat vor dem ersten Hilfspaket, drängte Merkel darauf, die Entscheidung auf nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai zu legen.

Das war nicht durchzuhalten. Doch auch nachdem das erste Rettungspaket verabschiedet war, drohte Deutschland mit einem Ende der Hilfen und forderte Strafzinsen statt wie die EZB vergünstigte Kredite. Sogar dafür, den Defizitsünder das Stimmrecht in Europa zu entziehen, machte sich Merkel stark. Bei der Euro-Rettung setzte Deutschland auf Eskalation statt auf Kompromiss. Aktuell nimmt Deutschland vor allem bei der Forderung nach Euro-Bonds eine Blockadehaltung ein. Bleibt die Frage, warum Deutschland diesen Kurs fährt. Bis zur Einführung des Euro sah das durchaus anders aus. Deutschland übernahm damals aus Eigeninteresse verstärkt Verantwortung für Europa – um zukünftig ökonomisch profitieren zu können.

Durchaus plausibel klingt die These, dass dies auf ökonomische Ursachen zurückzuführen ist – so etwa die New York Times (18.7.11.). Viele EU-Länder werden aufgrund von Schuldenkrise und Sparprogrammen in der Rezession verharren oder tiefer in die Krise geraten. Das habe zur Folge, dass Deutschland verstärkt sein „Geld und seine Energie außerhalb der Eurozone einsetzt, um sein robustes Wachstum anzutreiben“. Die ökonomische Relevanz der Euro-Zone sinke für Deutschland – mit wichtigen politischen Konsequenzen für die deutsche Europapolitik: „Während Deutschland weniger abhängig von den Märkten der Eurozone ist, gibt es Anzeichen dafür, dass es auch strikter mit seinen angeschlagenen Partnern wie Griechenland, Italien und Portugal umgeht, was den Druck auf die ohnehin angespannte Europäische Union verstärkt.“

Zwar gehen nach wie vor 40,9% der Exporte in die Euro-Zone, interessanter sind jedoch die wachsenden Exporte in Länder außerhalb der Euro-Zone seit Einführung des Euro. (Süddeutsche Zeitung, 9.9.11) So stieg seit Einführung des Euro 1999 bis 2010 der Export in Euro-Staaten zwar um 5%. Im gleichen Zeitraum legten jedoch die weltweiten Exporte aus Deutschland um 6,5% zu. Damit sank die Bedeutung des Euro-Raums für den deutschen Export von 46% auf 41% ab. Demgegenüber stieg die Bedeutung des Handels mit Ländern außerhalb der Euro-Zone von 54% auf 59%. (heute journal, 8.9.11) Dieser Trend wird sich aufgrund der Sparkurse und Rezessionen in Europa fortsetzen.

Reicht das als Begründung für den politischen Kurs Deutschlands? Nein, sicher nicht. Schließlich ist das Kapital selbst gespalten. Während BDA-Chef Dieter Hundt sich lautstark gegen Euro-Bonds ausspricht (Die Welt, 29.8.11) und sich Ex-BDI-Chef Hans-Olaf Henkel sogar für eine Aufspaltung der Euro-Zone stark macht (ak 556), weiß der amtierende BDI-Präsident Hans-Peter Keitel, dass Deutschland für die Rettung des Euros Opfer bringen muss: „Der BDI ist vehementer Verfechter der europäischen Integration. Wir brauchen eine stabile Gemeinschaft. Dafür ist der Euro unverzichtbar … Wir wollen nach vorn gehen und in Europa, in den Euro investieren – auch wenn es uns schmerzt“. (Berliner Zeitung, 29.8.11)

Zu diesen Konflikten innerhalb des Kapitals kommen weitere Punkte hinzu, die dazu führen, dass die Regierungspolitik widersprüchlich sein muss. Spätestens mit dem Scheitern der EU-Verfassung durch die ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden fehlt es an einem politischen Projekt. Dem ökonomischen Integrationsprozess kann kein positives politisches Projekt zur Seite gestellt werden. Zwar steht noch vage das Ziel einer politischen Union im Raum, aber es gibt keinerlei Vorstellung davon, was darunter verstanden werden könnte. Was bleibt ist der bereits eingeschlagene Pfad der Stabilisierungspolitik.

Zudem sind Krisen immer Phasen, in denen zwei Prozesse parallel stattfinden. Zum einen versucht jedes Land, möglichst unbeschadet aus der Krise herauszukommen – auch auf Kosten anderer Länder oder herrschender Spielregeln wie etwa dem Stabilitätspakt. Zum anderen sind Krisen immer auch Phasen, in denen Gelegenheiten genutzt werden, nationale Interessen durchzusetzen. Das zeigt sich vor allem bei Deutschland und Frankreich. Während Deutschland die skizzierte Stabilisierungspolitik vorantreibt, versucht Frankreich, sein langjähriges Anliegen einer Wirtschaftsregierung zu etablieren – bisher mit mäßigem Erfolg.

Nicht zu vernachlässigen ist das populistische Moment, das ebenso zum widersprüchlichen Agieren der Bundesregierung beiträgt. Regierungspolitik zielt immer darauf ab, den Klassencharakter von Politik unsichtbar zu machen – vor allem in der Krise. Deshalb wird das nationale Kollektiv angerufen: „Wir Deutsche haben über unsere Verhältnisse gelebt“. Umgekehrt fühlt sich ein Großteil der deutschen Bevölkerung von „Griechenland“ über den Tisch gezogen. Das rassistische Ressentiment ist jedoch nicht allein Resultat der Politik deutscher Eliten, sondern tief in der Bevölkerung verankert. Weil die CDU die nächste Wahl nicht verlieren will, bedient sie einerseits den rassistischen Diskurs gegen „Pleiteländer“, um gleichzeitig die Rettungspolitik offensiv als alternativlos zu verteidigen.

Diese Gemengelage stellt den Hintergrund für die europapolitische Debatte dar. Der politischen Elite ist nicht klar, ob verstärkte Verantwortung für Europa oder eine konfrontative Strategie für Deutschland besser ist.

Diese Konstellation findet sich auch in der Auseinandersetzung um die Eurobonds wieder. Geht man davon aus, dass die Gemeinschaftsanleihen – ähnlich wie der Euro – auch gegen deutschen Widerstand eingeführt werden, bleibt allein die Frage, wie Deutschland seine Interessen bei der konkreten Ausgestaltung durchsetzt. Dann wird sich auch zeigen, welche politischen Kräfte die Oberhand gewinnen werden.

Ingo Stützle

Anmerkung:
1) Hans-Jürgen Urban: Stabilitätsgewinn durch Demokratieverzicht? Europas Weg in den Autoritarismus. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2011

 

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 564 v. 16.9.2011