Marx mit der MEGA² lesen

Kommendes Wochenende (27.-29. November) findet eine internationale wissenschaftliche Konferenz zur Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA²) in Berlin statt.

Seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise ist Marx wieder in aller Munde. Eine Renaissance der Beschäftigung mit Marx hat eine Flut neuer Publikationen hervorgebracht. In den letzten Jahren wurde eine Reihe von neuen Bänden der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA²) mit vielen neuen Forschungsergebnissen veröffentlicht, die stärker in das Licht der Öffentlichkeit gerückt werden sollen. Die Marx-Konferenz mit breiter Themenauswahl wendet sich nicht nur an Spezialisten, sondern an alle, die über Marx’ und Engels’ Werk debattieren wollen.

Hier geht es zum Programm

Gerechtigkeit für Marx

Fast wöchentlich erscheinen neue Bücher zu Marx. Inzwischen auch wieder Biographien. Der letzte Renner war Wheens Biographie. Von ihm folgte aufgrund des Erfolgs gleich ein wirklich ärgerliches Buch über Marx’ Kapital. Bei Piper erschien nun eine weitere Biographie. Im heutigen Neuen Deutschland ist eine Besprechung zu finden. Der letzte Satz heißt: »Trotz aller Einschränkungen und manchen sachlichen Fehlern ist es ein gutes Buch, allein schon wegen des Satzes: ›Zweifellos ist der Kapitalismus ungerecht.‹« Und schon wird man stutzig. Wollte Marx nicht Ausbeutung auf Grundlage von »Freiheit, Gleichheit und Eigentum« erklären (bzw. warum diese Ausdruck der kapitalistischen Gesellschaftsformation sind)? Machte er sich nicht zeitlebens über die »moralisierende Kritik« (u.a. MEW 4, 331ff.) und stellte gegenüber den »wahren Sozialisten« fest: »Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral« (MEW 3, 229). Selbst an etwas entlegenden Stellen unterstricht Marx diesen Punkt. So im dritten Band bei der Verhandlung des zinstragenden Kapitals:

»Mit Gilbart (siehe Note) von natürlicher Gerechtigkeit hier zu reden, ist Unsinn. Die Gerechtigkeit der Transaktionen, die zwischen den Produktionsagenten vorgehn, beruht darauf, dass diese Transaktionen aus den Produktionsverhältnissen als natürliche Konsequenz entspringen. Die juristischen Formen, worin diese ökonomischen Transaktionen als Willenshandlungen der Beteiligten, als Äußerungen ihres gemeinsamen Willens und als der Einzelpartei gegenüber von Staats wegen erzwingbare Kontrakte erscheinen, können als bloße Formen diesen Inhalt selbst nicht bestimmen. Sie drücken ihn nur aus. Dieser Inhalt ist gerecht, sobald er der Produktionsweise entspricht, ihr adäquat ist. Er ist ungerecht, sobald er ihr widerspricht. Sklaverei, auf Basis der kapitalistischen Produktionsweise, ist ungerecht; ebenso der Betrug auf die Qualität der Ware.« (MEW 25, 352)

Aber genau um den Betrug – der natürlich immer vorkommt – geht es Marx bei seiner Kapitalismuskritik eben nicht. Für ihn ist Kapitalismus nicht ungerecht. Moral und Gerechtigkeitsvorstellungen sind für Marx immer schon gesellschaftlich formbestimmt. Wenn also Hosfeld Biographie ausgerechnet deshalb gelesen werden soll, weil der Autor den Kapitalismus –  vermeintlich wie Marx selbst – ungerecht findet, dann hat mir diese Rezension im ND es nicht unbedingt leichter gemacht, zu dieser Biographie zu greifen – obwohl der Abschluss der Besprechung sicherlich ganz anders gemeint war. Andere Stimmen sprechen jedoch dafür, die 260 Seiten einmal zu lesen. Und überhaupt: Ich sollte mir sowieso ein eigenes Bild machen.

Vorhersage: Weltmarktungewitter. Der US-Dollar zu Gast China

Weltmarktungewitter
Foto: CC-Lizenz, merrickb

Dass nach wie vor der neoliberale Zeitgeist herrscht, zeigte Obamas Besuch in China. Eines der zentralen Themen waren die Währungsverhältnisse. Auch in der deutschen Presse. Heute in der taz und gestern in Die Welt.

Im Februar war bereits die US-Außenministerin Clinton in China zu Besuch. Damals gab es ähnlich Debatten. Kurz nach Rückkehr von ihrer China-Reise kündigte Präsident Obama zeitgleich mit dem größten Konjunkturpakt der US-Geschichte an, dass jetzt gespart werde. Fast wie beim Schlussverkauf: Richtig viel Geld ausgeben und gleichzeitig sparen! Wenige Monate später dann die gleiche Leier: In einem Gespräch Ende Juli kamen US-Außenministerin Clinton sowie Finanzminister Geithner mit ihren chinesischen Kollegen zu einem zweitägigen »Strategic and Economic Dialogue« zusammenkamen und betonten, dass die USA jetzt sparen würden. Eine ähnliche Ansage wird auch dieses Mal kommen (müssen). Schließlich führen China und die USA ungewollt eine symbiotische Beziehung und der US-Dollar soll weiterhin stark bleiben. China versuchte in der letzten Zeit die USA unter Druck zu setzen, in dem sie als Alternative zum US-Dollar die Sonderziehungsrechte des IWF als Weltgeld ins Spiel brachte. Eine etwas unrealistische Vision. Aber wie weit die gegenwärtige Weltpolitik von einer Re-Regulierung der Weltwirtschaft entfernt ist, zeigen die Aussagen bei der heutigen Pressekonferenz. Obwohl es nämlich zu keiner Einigung hinsichtlich der Wechselkurses gab, betonte Obama: »Ich bin erfreut über die Aussagen der chinesischen Seite in den vergangenen Erklärungen, sich im Laufe der Zeit auf Wechselkurse zuzubewegen, die mehr am Markt orientiert sind«. Der Markt soll es also richten. Was wir von diesem zu erwarten haben ist wohl mehr als klar: eine weitere Verschärfung der Widersprüche.

Der US-Dollar steht seit einigen Monaten unter Druck. Vor allem sog. carry trades machen ihm zu schaffen. Dass der US-Dollar eben keine Währung wie jede andere ist zeigt der Umstand, dass diese Arbitragegeschäfte plötzlich Thema sind, obwohl Japan und der Yen jahrelang davon betroffen waren und es niemand so recht interessierte. Wie aber die USA meinen das Problem in den Griff zu bekommen lässt nicht unbedingt hoffen, dass das große »Weltmarktungewitter« (Marx) bereits vorbei ist.

Verkehrte Welt der real existierenden Kapitalismuskritik

Bild: titanic magazin

So sieht sie also aus, die real existierende Kapitalismuskritik. Da wollen die Gewerkschaften, die organisierte Interessenvertretung der Lohnabhängigen, einen richtigen Kapitalismus und keinen Staatssozialismus:

»Das Problem sind die Strukturen und die grundsätzliche Ausrichtung des insolventen Giganten GM. Das Berichtswesen von einer Hierarchieebene zur nächsten erinnert an Staatssozialismus, in dem Erfolgsmeldungen abgesetzt werden, selbst wenn der Tanker schon absäuft.«

Der gute Armin Schild, IG-Metall-Bezirksleiter und Aufsichtsrat bei Opel meinte wohl die Kritik am Staatssozialismus passt gut zum 20igsten Jahrestag des Mauerfalls und könnte so richtig mobilisierend wirken.

Und diejenigen, die alles daran setzen, dem Kapital gute Verwertungsbedingungen zu garantieren (da Voraussetzungen für Arbeitsplätze), schimpfen auf den Kapitalismus, nein genauer: Turbokapitalismus.

»Dieses Verhalten von General Motors zeigt das hässliche Gesicht des Turbokapitalismus«

So Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU).

Wie heißt es so schön bei Asterix: Ich hab’ nichts gegen den Kapitalismus, nur dieser Kapitalismus ist nicht von hier!

Lévi-Strauss und ein schlechter Tausch

Die FAZ gibt sich ja wirklich Mühe. Über Strecken ist die ›neue‹ Gestaltung des Titelblatts auch wirklich geistreich und witzig. Auch heute wieder. Nur eben: entlarvend. Zum Tod Claude Lévi-Strauss wurde ein Foto abgedruckt und wie gewohnt mit einem Text versehen, der andere Themen des Tages aufgreift. Heute die Entscheidung von General Motors, Opel nicht zu verkaufen.

»Nicht weit vom Stamm – “Warum soll ich meine Tochter heiraten, wenn ich sie im Tausch mit einem anderen Stamm verwenden kann?” So erklärte ein Eingeborener dem Anthropologen Claude Lévi-Strauss einmal die Logik des Inzesttabus. Lévi-Strauss (Nachrufe auf Seiten 31 bis 33), auf unserem Bild 1935 in Brasilien, erklärte die Kultur aus dem Prinzip des Tauschs. Strukturalismus heißt, dass man alles umkehren kann. General Motors beweist es. Detroit (Seite 11) fragte Berlin (Seite 3): Warum soll ich meine Tochter verkaufen, wenn ich sie noch gebrauchen kann? «

Lévi-Strauss ethnologischen Beobachtungen im Amazonasgebiet schließt die bürgerliche FAZ mit der betriebswirtschaftlichen Entscheidung von GM kurz und zeigt damit mal wieder, dass es der bürgerlichen Klasse doch immer wieder gelingt, die modernen Kategorien der politischen Ökonomie umstandslos in die Vergangenheit rückzuprojizieren. Tausch und Nicht-Tausch scheinen in der Geschichte der Menschheit immer das gleiche. Ob im brasilianischen Urwald oder im modernen Kapitalismus, der zu viele Autos produziert.

Bitter amüsiert hatte sich bereits Marx darüber, der u.a. in einer Fußnote im »Kapital« den Autor Torrens mit folgenden Worten zitiert:

»In dem ersten Stein, den der Wilde auf die Bestie wirft, die er verfolgt, in dem ersten Stock, den er ergreift, um die Frucht niederzuziehn, die er nicht mit den Händen fassen kann, sehn wir die Aneignung eines Artikels zum Zweck der Erwerbung eines andren und entdecken so – den Ursprung des Kapitals.« Marx schlussfolgert nicht ohne Ironie, dass wohl aus jenem ersten Stock auch zu erklären ist, warum »stock« im Englischen synonym mit »Kapital« ist. (KI, 199, Fn. 9)

Dass der Tausch im Kapitalismus etwas völlig anderes ist als der archaische »Austausch«, einer anderen gesellschaftlichen Logik gehorcht und einer anderen Rationalität innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung folg, scheint die FAZ nicht auf dem Schirm zu haben. Kein Wunder also, dass in Hennings Ritter Nachruf auf Lévi-Strauss auch Marcel Mauss’ Buch »Die Gabe« nicht auftaucht. Ein Buch, das Lévi-Strauss stark beeinflusste und an dem er kritisch anschloss. Insoweit konsequent: Für die FAZ scheint die Logik des Kapitals eben immer schon zu herrschen.

Lévi-Strauss’ früherer Oberassistent Maurice Godelier, ebenfalls Ethologe, der auch an Marcel Mauss kritisch anschloss, formulierte hierzu bereits 1965:

»Der Begriff des Kapitals wird also ›ausgedehnt‹ und zur Analyse jeder Gesellschaft verwendet, nachdem man ihm jeglichen Eigencharakter – nämlich den, Geld zu sein – genommen hat und ihn von den mit ihm gesetzten spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen, nämlich des Warentausch, abgelöst hat. Erst um diesen Preis wird der Kapitalbegriff für sämtliche Gesellschaften brauchbar, aber er definiert dann keine einzige mehr und macht sie sogar unbegreifbar. Es wäre eine Überlegung wert, warum man eigentlich so sehr darauf versessen ist, den Begriff des Kapitals auf jede Gesellschaft zu projizieren.«

Auch wenn bei Godelier teilweise problematische Formulierungen verwendet, ist seine letzte Frage in jedem Fall eine Überlegung wert. Mögliche Antwort: Vielleicht weil die Bourgeoisie ihre Herrschaft mit der Setzung des Kapitals als überhistorisches Phänomen verewigt? Zumindest theoretisch. Und das ist ja schon was wert.

Ein Bonbon zum Schluss: arte dokumentiert eine Lesung von Maurice Godelier aus Lévi-Strauss.