Eine ›Probe aufs Exempel‹, die schief ging, oder wie die »Theorien über den Mehrwert« nicht zu lesen sind

Jan Hoff, Alexis Petrioli, Ingo Stützle und Frieder Otto Wolf

Erwiderung auf: Joachim Bischoff, Christoph Lieber: Kapital-Lektüre – die dritte. Ökonomiekritik und “radikale Philosophie”, in: Sozialismus 05/2007; Das Kapital neu lesen. Beiträge zur radikalen Philosophie

Im Sozialismus 34/5 widmeten sich Joachim Bischoff und Christoph Lieber mit einer längeren Besprechung dem von Hoff, Petrioli, Stützle und Wolf herausgegebenen Sammelband „Das Kapital neu lesen. Beiträge zur radikalen Philosophie“ (Münster 2006). Im Folgenden antworten die Herausgeber auf die vorgebrachte Kritik. Als Herausgeber von Das Kapital neu lesen erklären wir ausdrücklich unsere Dankbarkeit gegenüber Joachim Bischoff und Christoph Lieber. Die von ihnen geleistete Kritik ist solidarisch formuliert und spricht inhaltlich wichtige Fragen an. Sie macht es damit möglich, Differenzen neu zu artikulieren, deren offene Austragung auch politisch wichtig sein wird.

Allerdings sehen wir uns dadurch zu dieser Replik veranlasst, dass sie in ihrer Argumentation in einige problematische Vereinfachungen – und in einem Kernpunkt sogar nachweislich einen wichtigen Irrtum verfallen. Vorweg möchten wir allerdings auch anerkennen, dass der Hinweis von Bischoff/Lieber auf „die ökonomisch-politischen Gesamtanalysen“ (48 rechts) als ein wichtiger Bestandteil der „ersten Welle“ die von uns umrissene Perspektive – bis in die Gegenwart hinein – um einen wichtigen Punkt erweitert. Allerdings haben sie uns nicht davon überzeugen können, dass alle wichtigen ‚Realanalysen’ als solche bereits das Verständnis des Marxschen Kapital befördert haben. Auch in der Frage der Zählung der „Wellen“ können wir einräumen, dass die Frage der Auswirkungen der Oktoberrevolution auf die Kapital-Lektüre eine genauere Untersuchung verdient, als unsere Skizze zu leisten vermag und ihre kurze Zusammenfassung erkennen lässt.

Bischoff und Lieber machen es sich aber nach unserer Überzeugung mit der Philosophie zu einfach: Die Warnung vor einer Philosophie als „Wissenschaft vor der Wissenschaft“ (48 links) ist gegenüber idealistischen Systemphilosophien oder gegenüber ‚inhaltslogischen’ Entwürfen in der Nachfolge von Leibniz sicherlich triftig. Sie aber gegenüber der ‚radikalen Philosophie’ zu erheben, die sich als eine inkonklusive Tätigkeit begreift, die in theoretische und politische Debatten eingreift, damit Gedanken geklärt werden können, bedürfte zumindest einer näheren Begründung.

Wir sind im Rückblick davon überzeugt, dass ein ‚westdeutscher Althusserianismus’ nie eine Existenzmöglichkeit gehabt hat – und wollen auch jetzt keinen solchen auf den Weg bringen. Allerdings teilen wir auch nicht die von Bischoff/Lieber skizzierte Reduktion der philosophischen Interventionen Althussers auf die Auseinandersetzung mit den „ideologischen Tendenzen innerhalb des damaligen ‚Weltanschauungsmarxismus’, … die ihrerseits selbst im Gewand philosophischer Artikulationen auftraten“ (48 links). Eben so wenig ihre Interpretation, Althusser sei es im Kern um eine „Theorie der Erkenntnisproduktion“ gegangen (48 links) oder er sei dabei stehen geblieben, sich in einem strukturalistischen Zirkel zu bewegen. Gewiss hat er, indem er die im ML vorgegebene ‚erkenntnistheoretische’, faktisch metaphysizierende Privilegierung des dialektischen Materialismus nicht von Anfang an offensiv destruierte (sondern diesen zunächst verhalten in eine ‚materialistische Dialektik’ ummünzte, bevor er später dann auf den ‚aleatorischen Materialismus’ setzte), den Wirkungsgrad seines antistalinistischen Befreiungsschlags unweigerlich beschränkt. Sicher ist es auch richtig, dass Althusser immer wieder neue Anläufe unternommen hat, um seine eigene Tätigkeit als Philosoph und deren Relevanz für die kommunistische Bewegung möglichst treffend zu reflektieren. Der Anspruch einer philosophischen Letztbegründung war ihm dabei aber immer ganz fremd.

In unserem Sammelband haben wir – so gut wir konnten – den Versuch unternommen, auf eine breite internationale Debatte in den Gesellschaftswissenschaften und nicht nur in der Philosophie Bezug zu nehmen. Das bleibt sicherlich Anlass für vielfältige Einwände und Differenzen, die nur als solche klar zu artikulieren sein werden. Das bedarf jetzt vorab keiner weitergehenden Erörterung. Anders sieht dies mit der zentralen Kritik aus, die Bischoff/Lieber gegen die von uns vertretene Perspektive auf das Kapital vortragen: Sie erklären die Frage, „die Differenz der Marxschen ‚Methode’ zur klassischen politischen Ökonomie“ richtig zu begreifen (48 rechts), bzw. die Frage der Verortung der „Marxschen Kritik der politischen Ökonomie ‚zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition’“ [Zitat von Michael Heinrich] (48 rechts f.] zur „Grundfrage“ bzw. zum „Referenzpunkt“ jeder ernsthaften Kapital-Lektüre. Die „Frage des Verhältnisses von Marx zum vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus“ (49 links) gehört offenbar für sie zu dieser Problematik. Deswegen machen sie die „Probe aufs Exempel“ (49 links) anhand von Jan Hoffs Diskussion des Verhältnisses von Marx zu Hodgskin als „Verhältnis der Marxschen Kritik zu einem Vertreter der politischen Ökonomie“ (49 links). Dabei führen sie allerdings in actu vor, wie die Theorien über den Mehrwert nicht zu lesen sind und unterliegen dabei einer Reihe von signifikanten Irrtümern.

Bevor wir auf die inhaltliche Probleme der Rezension von Bischoff und Lieber in diesem Punkt eingehen, ist es zweckmäßig, einige textliche Missverständnisse zu klären.

Erstens: An einem zentralen Punkt ihrer Kritik begehen Bischoff/Lieber einen Interpretationsfehler hinsichtlich des marxschen Textes in den Theorien über den Mehrwert. Sie schreiben: „Hoff ordnet Hodgskin innerhalb der Kritik der politischen Ökonomie zunächst richtig ein: `Die bedeutendste Rezeption der Schrift Verteidigung der Arbeit befindet sich im dritten Teil der Theorien über den Mehrwert. Marx verweist hier auf das Beweisziel Hodgskins, die Nichtproduktivität des Kapitals, und begreift dies als `nothwendige Consequenz der Ricardoschen Darstellung´ (MEW 26.3/262).´ /293/ Aber was hier notwendige Konsequenz für den Forschungs- und Darstellungsprozess von Marx selbst bedeutet, bleibt unterbelichtet. Hodgskin löst zunächst `die surplus value in surplus labour´ auf und bleibt somit nicht bei Ricardos `Verwechslung von surplus value und profit´ (ebd.) stehen, sondern liefert mit einer solchen entwickelten Mehrwertauffassung selbst einen Baustein im sozialen Dechiffrierungsprozess der Kapitalmystifikation.“ An der von Bischoff/Lieber angegebenen Textstelle der Theorien über den Mehrwert schreibt Marx tatsächlich: „Das erste Pamphlet, die richtige Consequenz aus R. [Ricardo, JH] ziehend, löst den surplusvalue in surpluslabour auf. Dieß Gegensatz gegen die Gegner und Nachfolger R´s, die sich an seine Verwechslung von surplusvalue und Profit anklammern.“ (MEGA² II.3.4, S. 1397; MEW 26.3, S. 262) Allerdings bezieht sich Marx an dieser Textstelle und mit dieser Äußerung gar nicht auf Hodgskin, sondern auf einen anderen Autor, nämlich den bereits zuvor rezipierten Anonymus, der die Schrift The source and remedy of the national difficulties… verfasst hat. Das ergibt sich aus Inhalt und Kontext und ist auch dem MEGA²-Apparatband zu entnehmen. (Siehe MEGA² II.3, S. 3001) Diese Fehlzuordnung von Bischoff und Lieber, ist allein schon deshalb unverständlich, weil die Marx-Editoren nicht nur der MEGA², sondern auch der von Bischoff/Lieber benutzten MEW klarstellen, auf welches Werk sich die entsprechende Marx-Passage bezieht. (Siehe MEW 26.3, S. 262) Zweitens kritisieren Bischoff und Lieber, Hoff würde die ML-Formel von der marxschen Lehre als Verschmelzung der ideengeschichtlichen Quellen der deutschen Philosophie, der englischen Ökonomie und des französischen Sozialismus aufgreifen, ohne sie weiter zu problematisieren. Diese Formel hat in Hoffs Aufsatz nur den Stellenwert eines „Aufhängers“, zu dem sie aufgrund ihres Bekanntheitsgrads – und nicht ihres Inhalts wegen – geeignet ist. Hoff stützt sich in seiner Argumentation keineswegs auf sie. So lautet denn auch Hoffs nächster Satz, der von Marx weg- und zu Hodgskin hinleitet: „Doch bereits vor Marx gab es Theoretiker, in deren Denken ökonomische Wissenschaft, philosophische Überlegungen und ein radikaler Antikapitalismus zu einer Einheit verschmolzen waren. Thomas Hodgskin dürfte einer der Bekanntesten sein.“ Zum Kritikpunkt, Hoff würde Lenins eingängige Formel nicht problematisieren, ist zu sagen, dass er sie gar nicht in Lenins Fassung vorträgt, sondern ohne die verengenden und irreführenden nationalen Spezifizierungen. Dies stellt eine wichtige Modifikation dar. In der dazugehörigen Fußnote schreibt Hoff: „Die Adjektive `deutsch´ bzw. `englisch´ bzw. `französisch´ sind hier ausgelassen, da ich diese Spezifizierung für bisweilen problematisch halte. Adam Smith und Francois Quesnay z. B. sind geistesgeschichtlich nur vor ihrem jeweiligen (nicht-englischen) nationalen Hintergrund zu verstehen.“ Hier liegt sehr wohl eine wichtige Problematisierung vor, beruht Lenins Formel doch nicht nur auf der Idee einer Verschmelzung von Philosophie, ökonomischer Wissenschaft und Sozialismus, sondern auch auf der durch Moses Hess und andere überlieferten Idee der „europäischen Triarchie“ mit ihren klar abgegrenzten „nationalen Zuständigkeitsbereichen“ (wo z.B. allein England die politische Ökonomie repräsentiert und etwa die von Marx geschätzten französischen bzw. französisch-schweizerischen Ökonomen Boisguillebert, Quesnay, Sismondi und Cherbuliez unter den Tisch fallen). Und zumindest dieses Element der „Triarchie“ weist Hoff explizit zurück. Drittens wird ein wichtiger Unterschied, der zwischen Hodgskins und der marxschen Kritik der Kapitalmystifikation besteht, von Bischoff und Lieber nicht hinreichend berücksichtigt. Immerhin sprechen sie selbst von „der Unzulänglichlichkeit, Einseitigkeit und Betonung des `Subjektiven´ bei seiner [d.h. Hodgskins] Kapitalauffassung“. Doch was hat es mit dieser „Unzulänglichkeit“ und „Einseitigkeit“ auf sich? Begrenzt bleibt Hodgskins Auffassung von der Kapitalmystifikation, weil er – wie Hoff in seinem Aufsatz darlegt – ein konstitutives Merkmal dieser Mystifikation verkennt, nämlich ihren Charakter als spezifisch „objektiven“ Schein. Die Mystifikation entsteht auf der Grundlage des ökonomischen Prozesses selbst. Dies ist mit der spezifischen „Objektivität“ des Scheins gemeint. Marx hat dies erkannt und in seiner Hodgskin-Rezeption diesem vorgeworfen, er erkenne nicht, wie die „Vorstellungsweise entspringt aus dem Verhältnis selbst“. Stattdessen führt Hodgskin – und dies ist auch Marx in seiner Rezeption bewusst – die Kapitalmystifikation auf intentionale Apologetik seitens bürgerlicher Ökonomen zurück. Es bleibt zu resümieren, dass Hodgskin eben kein, in marxscher Perspektive, vollkommen adäquates Verständnis der Kapitalmystifikation besaß, denn gerade deren „objektiver“ Charakter ist ein konstitutives Merkmal, das für ihr Begreifen maßgeblich ist. Bischoff und Lieber übergehen diesen wichtigen Aspekt marxscher Hodgskin-Kritik weitgehend. Nach diesen Klarstellungen, können wir zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit Bischoff und Lieber übergehen. Stellen wir zunächst aus ihrer Kritik die wichtigsten Punkte – außer denjenigen, die jetzt schon geklärt sind – thesenartig zusammen: 1. Hoff verkennt die Qualität des marxschen Forschungs- und Darstellungsprozesses als einer Einheit, in der Forschung und Darstellung permanent ineinander umschlagen; Hoff besitzt keine „immanente Problemsicht“ auf diese Einheit und kann nicht erkennen, dass Marx seine „Analyse und Kritik“ ganz bewusst in den Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie vor ihm stellt. 2. Marx verweist auf das differenzierte „intellektuelle soziale Feld“, in dem sich der theoretische Entwicklungsprozess abspielt und liefert „selbst schon eine Art `intellectual history´ für den `vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus´, was die Herausgeber als Forschungsfeld selbst einfordern“. 3. Hodgskins Schriften fallen im Vergleich zu den anderen „proletarischen Gegensätzlern“ in eine „spätere Zeit, in ein entwickelteres Stadium der sozialen Antagonismen. Hier `erregten diese Schriften … bedeutendes Aufsehen´ (MEW 26.3/259)“. (Gemeint sind in diesem Marx-Zitat Labour Defended und Popular Political Economy.) 4. In ihnen (Labour Defended und Popular Political Economy) gibt „Hodgskin den klassischen Ausdruck des proletarischen Gegensatzes gegen Ricardo.“ Zu 1.: Den Zusammenhang des Marxschen Forschungs- und Darstellungsprozesses und die diesbezügliche Bedeutung der Marxschen Auseinandersetzung mit der vormarxschen politischen Ökonomie verkennen wir keineswegs (die Formulierung von „einer Einheit, in der Forschung und Darstellung permanent ineinander umschlagen“ halten wir indes für problematisch). Und trotzdem hat Hoff die entsprechende, von Bischoff und Lieber eingeforderte Perspektive in meiner Untersuchung des theoretischen Verhältnisses Marx-Hodgskin bewusst nicht eingenommen, da wir der Auffassung sind, dass die von Bischoff/Lieber geforderte Perspektive nur ein völlig schiefes und reduziertes Bild von Hodgskin und dessen Stellung innerhalb des „vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus“ übrig lässt. Zur Begründung kommen wir noch.

Zu 1. und 2.: Die erste und die zweite Aussage zielen der Tendenz nach in entgegengesetzte Richtungen. Ihre Zusammennahme impliziert Probleme, die Bischoff und Lieber offenbar nicht bewusst sind. Man halte sich noch einmal die alte Streitfrage nach dem Stellenwert der Theorien über den Mehrwert vor Augen: Handelt es sich hierbei um den „4. Band des Kapital“ oder nicht? Die westberliner Projektgruppe Entwicklung des marxschen Systems stand in dieser Frage den ostdeutschen Forschern aus dem Umkreis des MEW- sowie des MEGA²-Projekts gegenüber. Michael Heinrich, der diese Frage in den 1990er Jahren abermals aufgriff, wendet sich in überzeugender Weise gegen eine Bezeichnung der „Theorien“ als vierter Band, weil dort „der vorliegende Text sehr schnell von einer Darstellung früherer Theorien in das Protokoll eines Forschungsprozesses“ umschlägt. Bischoff und Lieber haben mit ihrer These, dass Marx den eigenen Forschungs- und Denkprozess innerhalb seiner Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie vornimmt, grundsätzlich recht. Der marxsche Forschungs- und Selbstverständigungsprozess war es auch (wenn auch nicht ausschließlich), der seine Bezüge auf die theoriegeschichtliche Entwicklung anleitete. Genau diese marxsche Verortung des eigenen Forschungs- und Denkprozesses in der Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie hat aber dazu beigetragen, dass Marx vor allem dasjenige Material aus dem Feld des ökonomietheoretischen Antikapitalismus berücksichtigte, für das er unmittelbare Verwendung hatte. Dies wiederum machte es aber unmöglich, dass Marx seine Ökonomiegeschichtsschreibung in den Theorien über den Mehrwert konsequent durchhalten und weiterverfolgen, das „differenzierte `intellektuelle soziale Feld´ […], in dem sich der theoretische Entwicklungsprozess abspielt“ , angemessen darstellen und „selbst schon eine Art `intellectual history´ für den `vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus´“ liefern konnte. Marx bricht im entsprechenden Abschnitt des dritten Teils der Theorien über den Mehrwert nach seiner in der Rezeption von Labour Defended geleisteten Auseinandersetzung insbesondere mit der Produktivkraftproblematik und dem wichtigen Aspekt der Kapitalmystifikation, vorerst ab; vielleicht auch deshalb, weil er die bezweckte theoretische Selbstverständigung erreicht hat. Erst in Heft XVIII des Manuskripts reicht er die Behandlung der Popular Political Economy nach (die er trotz ihrer thematischen Vielfalt längst nicht so intensiv rezipiert). Die „`intellectual history´ für den `vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus´“, die Bischoff und Lieber im dritten Teil der Theorien über den Mehrwert sehen, würde also die systematische Behandlung der anonym erschienenen Schrift The source and remedy of the national difficulties…, Piercy Ravenstones Thoughts on the funding system… sowie Labour Defended und Popular Political Economy umfassen und im Jahr 1827 enden. Aber ist eine „`intellectual history´ des `vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus´“ denkbar, die sich allein auf diese vier Quellen systematisch stützt und nur bis ins Jahr 1827 reicht? Dazu im Folgenden mehr.

Zu 2. und 3. (und beiläufig zu 4.): Innerhalb der „intellectual history“ des „vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus“ sind Hodgskins Schriften, auf die sich Marx sowie Bischoff/Lieber hier beziehen – Labour Defended und Popular Political Economy – , weder historisch spät, noch innerhalb des entwickelteren Stadiums der sozialen Antagonismen zu verorten (wie Bischoff/Lieber es sehen wollen). Dass es dem Leser der „Theorien über den Mehrwert“ so erscheint, liegt daran, dass Marx sich mit dem Zeitabschnitt von 1821 bis 1827 begnügt, wobei er drei in rezeptionshistorischer Hinsicht wirklich bedeutende Schriften dieses Zeitraums auch noch aus seiner systematischen Bearbeitung ausschließt (William Thompsons Inquiry von 1824, die vom selben Autor stammende Labour Rewarded von 1827 sowie John Grays Lecture on Human Happiness von 1825). Die „intellectual history“ des „vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus“ reicht jedoch, insofern man darunter den engeren Bezugsrahmen der von der aktuellen Forschung als sog. „ricardianische Sozialisten“ bezeichneten Autoren versteht , von Thompsons Inquiry (1824) über Hodskins Labour Defended und Popular Political Economy (1825 und 1827), über John Grays Lecture on Human Happiness (1825), über Thompsons Labour Rewarded (1827), über Hodgskins The Natural and Artificial Rights of Property Contrasted (1832) bis hin zu John Francis Brays Labour´s Wrongs and Labour´s Remedy (1839). Setzt man – an Marx anschließend – die zwei Schriften des Anonymus und Ravenstones hinzu, so kommt man auf einen zeitlichen Rahmen von 1821 bis 1839, innerhalb dessen eher die durch die Chartistenbewegung geprägten 1830er Jahre als entwickelteres Stadium des sozialen Antagonismus zu qualifizieren sind. Sicherlich ragt Hodgskins Labour Defended (1825) – viel weniger aber seine beiden anderen Schriften (von 1827 und 1832) – in theoretischer Hinsicht aus diesem Autorenkreis heraus, doch ist dies offenbar kaum mit dem jeweiligen Stadium der sozialen Antagonismen zu erklären. Nun zum bedeutenden Aufsehen (siehe MEW 26.3/259), auf das Marx – und an diesen anschließend Bischoff/Lieber – mit Blick auf Labour Defended und Popular Political Economy hinweisen. In der Tat erregten diese Schriften bedeutendes Aufsehen: sie riefen die Kritik von Apologeten des Kapitals wie Charles Knight, Thomas Cooper, G. J. Poulett Scrope sowie von James Mill hervor (besonders gegen Labour Defended). Allerdings ist fraglich, ob Marx die – gerade mit Blick auf das „intellektuelle soziale Feld“, von dem Bischoff/Lieber reden – wichtigste Reaktion überhaupt kannte. Hierbei handelt es sich um William Thompsons Labour Rewarded von 1827, die eine ausführliche Polemik gegen Hodgskin enthält und hinsichtlich der Auseinandersetzung zwischen den beiden bedeutendsten Strömungen antikapitalistischer politischer Ökonomie – der individualistischen und durch bürgerliche Sozialphilosophie (Locke) inspirierten, sowie der kooperativen, owenistisch-utilitaristischen – die wichtigste Quelle überhaupt darstellt. Auf die 4. These von Bischoff/Lieber ist nur kurz einzugehen. Hodgskin kann keinen klassischen Ausdruck des proletarischen Gegensatzes gegen die bürgerliche politische Ökonomie darstellen, weil es diesen Gegensatz in „klassischer Form“ gar nicht gibt. Es gibt nicht das eine Paradigma, auf das die antikapitalistische Ökonomie in ihrer theoriehistorischen Entwicklung zuläuft. Dieser Eindruck mag durch die marxsche Argumentation im dritten Teil der Theorien über den Mehrwert entstehen, aber er spiegelt nur den zugleich verengten und zugespitzten marxschen Problemhorizont wider. Statt einer Theorieentwicklung hin zu einer „klassischen Form“ gibt es ein Spannungsfeld äußerst heterogener Theorieansätze mit den einander diametral gegenüberstehenden Polen Hodgskin und Thompson in den 1820er Jahren, das in den 1830er und 40er Jahren in einem totalen Theorieeklektizismus in Gestalt der linkschartistischen „Integrationsideologie“ Bronterre O´Briens seine Auflösung fand.

Dass Marx auf diesen für das „intellektuelle soziale Feld“, welches eine „intellectual history“ des vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus darzustellen hätte, geradezu entscheidenden Gegensatz zwischen Hodgskin und Thompson im dritten Teil der Theorien nicht systematisch eingeht, zeigt, wie eng sein dortiger Horizont ist – unabhängig von der Frage, ob er Labour Rewarded kannte oder nicht. Eng ist er deshalb, weil Marx nur ganz bestimmten Fragestellungen nachgeht, um theoretische Selbstverständigung bezüglich bestimmter ökonomischer Probleme zu erlangen. Ein weiteres Argument dafür, wie unangebracht Bischoffs/Liebers Hinweis auf das „intellektuelle soziale Feld“ und auf das Erregen „bedeutenden Aufsehens“ ist (auch wenn letztere Bemerkung von Marx stammt), wird deutlich, wenn man sich das Nichtvorhandensein einer systematischen Rezeption von Hodgskins The Natural and Artificial Rights of Property Contrasted (1832) im entsprechenden Abschnitt der „Theorien“ vor Augen hält. Marx hat diese Schrift in den „Beiheften“ von Mai/Juni 1863 exzerpiert und auch im Kapital erwähnt. Gerade im Hinblick auf Erörterung des „intellektuellen sozialen Feldes“ hätte er aber – falls der entsprechende Abschnitt der Theorien wirklich als eine „intellectual history“ des vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus konzipiert gewesen wäre – ausführlich auf sie eingehen müssen, denn hierbei handelt es sich um eine hodgskinsche Schrift, die (vermittelt über ihre Rezeption durch Bronterre O´Brien und die Verbreitung ihrer Thesen in den Spalten des Poor Man´s Guardian) eine enorme Breitenwirkung erzielte. Und dies gerade – um mit Bischoff/Lieber zu sprechen – in späterer Zeit, in einem gegenüber den 1820er Jahren viel entwickelteren Stadium der sozialen Antagonismen. Was ist mit Vom menschlichen Glück von John Gray? Diese Schrift von 1825 wurde dem modernen Forschungsstand zufolge „in ihrer Zeit viel gelesen und zitiert“ , war also innerhalb des von Bischoff/Lieber angesprochenen „intellektuellen sozialen Feldes“ wirksam (dagegen schreibt Marx selbst über die von ihm untersuchte anonyme [evtl. von Charles Dilke verfasste] Schrift von 1821, sie sei ein „kaum bekannte[s] Pamphlet“ [MEGA² II.3.4, S. 1370]). Wirft man einen Blick ins Literaturregister sämtlicher bis dato veröffentlichter MEGA²-Bände der zweiten und der vierten Abteilung, so findet sich (genau wie bei Labour Rewarded) kein einziger Hinweis auf Grays Lecture on Human Happiness. Marx hätte diese wichtigen Arbeiten aufgrund ihrer beträchtlichen Verbreitung kennen können und auf jeden Fall intensiv studiert haben müssen, wenn er den entsprechenden Abschnitt des dritten Teils der „Theorien“ wirklich als eine „intellectual history“ des vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus konzipiert hätte. Und wieso hätte sich eine „intellectual history“ des vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus auf Großbritannien beschränken sollen, wenn doch – wie Marx und Engels in der Deutschen Ideologie bemerkten – auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans eine „eigne sozialistisch-demokratische Schule“ (MEW 3, S. 476) existierte? Owen, Thompson, Hodgskin und Gray wurden auch in den USA gelesen und inspirierten dortige kritische und antikapitalistische ökonomische Denker. Nur um eine Auswahl zu nennen: Daniel Raymonds Thoughts on Political Economy (1820), Langdon Byllesbys wichtige Schrift Observations on the Sources and Effects of Unequal Wealth (1826), William Heightons An Adress to the Members of Trade Societies, and to the Working Classes Generally: Being an Exposition of the Relative Situation, Condition, and Future Prospects of Working People in the United States of America (1827), William Maclures Opinions on Various Subjects, Dedicated to the Industrious Producers (1831). Welches dieser Werke taucht in den “Theorien über den Mehrwert” auf? Kein einziges. Dass die Theorien über den Mehrwert hinsichtlich des US-amerikanischen Pendants zu den „ricardianischen Sozialisten” der Alten Welt eine Leerstelle aufweisen, mag dazu beigetragen haben, dass Theorie und Wirkung dieser amerikanischen Denker viel weniger erforscht sind. An dieser Stelle wäre im Hinblick auf die von Marx vorgenommene theoriehistorische Verortung Hodgskins als Konsequenz aus Ricardo auf Hodgskins Quellenbasis einzugehen. Wenn Hoff schreibt, dass Marx hier „auf das Beweisziel Hodgskins, die Nichtproduktivität des Kapitals“ verweist und dies „als `nothwendige Consequenz der Ricardoschen Darstellung´“ begreift, so gibt er hier zunächst nur die marxsche Perspektive wieder – die wir für viel zu verengt halten, um als Maßstab für eine generelle theoriegeschichtliche Verortung Hodgskins dienen zu können. Aus Platzgründen kann hier nicht auf die neuere Forschungsdiskussion zur Quellengrundlage und theoriehistorischen Verortung von Hodgskins Denken eingegangen werden. Die von ihr aufgeworfenen Fragen können nur kurz benannt werden: Spielt für Hodgskin nicht etwa Adam Smith eine viel größere Rolle als Ricardo, so dass man Hodgskin als „Smithian Socialist“ bezeichnen muss, wie Noel Thompson behauptet? Hat Hodgskin nicht etwa im Ricardianismus seinen Hauptgegner gesehen, wie Samuel Hollander behauptet? Ist es aufgrund der theoretischen Inspiration durch die Philosophie John Lockes nicht sogar legitim, Hodgskin als „Lockean Socialist“ zu bezeichnen, wie Gregory Claeys einen Forschungstrend zusammenfasst? Was ist mit dem Einfluss von William Godwin auf Hodgskin? Oder ist – wie David Stack behauptet – Hodgskins wichtigste und letztlich entscheidende Inspirationsquelle sogar darin zu sehen, dass seinem Antikapitalismus eine fundamentale theologische Weltauffassung zugrunde liegt? Letzteres mag schier unglaublich für all diejenigen klingen, die Hodgskin nicht oder nur kaum im Original und stattdessen nur aus den Theorien über den Mehrwert kennen. Um erneute Fehlinterpretationen zu vermeiden: Wir verweisen hier auf Fragen, nicht auf Antworten. Aber eines ist klar: Wer die Frage nach der hodgskinschen Quellenbasis allein anhand des dritten Teils der Theorien über den Mehrwert stellen oder gar beantworten will, der kommt nicht weit. Denn die marxsche Perspektive auf Hodgskin ist dort viel zu beschränkt. Dass Marx sich andernorts (in einem Exzerpt aus Manchester) und zu anderer Zeit (1845) gerade darum bemühte, die Vielfältigkeit der Quellenbasis eines sog. ricardianischen Sozialisten festzuhalten, zeigt ein Hinweis auf William Thompson: „eine widerspruchsvolle Combination von Godwin, Owen und Bentham.“ (MEGA² IV.4, S. 245)

Fazit: Es kann keine Rede davon sein, dass Marx im dritten Teil der Theorien über den Mehrwert das „intellektuelle soziale Feld“, auf dem sich der theoretische Entwicklungsprozess vom Anonymus bis Bray abspielte, differenziert darstellen konnte oder wollte. Zu deutlich sind die blinden Flecken, zu groß sind die Leerstellen. Es ging Marx (nicht allein, aber mitunter) durchaus darum, in der Auseinandersetzung mit antikapitalistischen politischen Ökonomen, die nach der Veröffentlichung von Ricardos Principles publizierten, Selbstverständigung hinsichtlich seiner eigenen theoretischen Probleme zu erlangen. Beides auf einmal – wie Bischoff und Lieber suggerieren –, d. h. eine hinreichend differenzierte theoriehistorische Darstellung und sein eigener Forschungs- und Selbstverständigungsprozess, waren nicht unter einen Hut zu bringen. Eine „`intellectual history´ für den `vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus´“ muss sich auf die Einsichten in den Theorien über den Mehrwert stützen – doch ist es ein Irrglauben, eine solche dort zu finden zu können. Dafür ist die marxsche Herangehensweise zu selektiv und seine dortige Quellenbasis viel zu dünn. Abschließend noch einmal zu 1.: Mit dem Insistieren auf der Bedeutung der marxschen Formanalyse, gegen das Bischoff und Lieber ihre Kritik richten, sind selbstverständlich noch nicht alle Probleme des theoretischen Verhältnisses der marxschen Kritik der politischen Ökonomie zum vormarxschen Antikapitalismus geklärt – aber dies ist eine conditio sine qua non für eine angemessene Bearbeitung dieser Problematik. Wer jedoch die Aufgabe, Klarheit in das marxsche Verhältnis zu Denkern wie Thomas Hodgskin zu bringen, ernst nimmt, der darf die von Bischoff und Lieber geforderte immanente Sichtweise im Hinblick auf den marxschen Forschungs- und Darstellungsprozess gerade nicht einnehmen. Denn wenn man das marxsche Verhältnis zu Hodgskin einseitig auf den Kontext des marxschen Forschungs- und Denkprozesses innerhalb seiner Hodgskin-Rezeption bezieht, erfolgt eine Zuspitzung der Perspektive auf die spezifischen Fragestellungen, mit denen sich Marx – mitunter in seiner theoretischen Arbeit der Selbstverständigung über bestimmte ökonomische Probleme – an Hodgskin abarbeitet. Mit diesem extrem verengten Problemhorizont lässt sich weder das Verhältnis von Marx und Hodgskin, noch Hodgskins Stellung in der „intellectual history“ des vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus klären – und schon gar nicht Hodgskins Quellenbasis. Denn sowohl Hodgskins Denken als auch der Kontext des „intellektuellen sozialen Feldes“, in dem es anzusiedeln ist, sind reicher und vielfältiger als es der marxsche Blick darauf widerspiegelt. Der Versuch, eine „intellectual history“ des vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus in den Theorien über den Mehrwert zu finden, führt auf einen Holzweg. Dies ist umso bedauerlicher, als die Erforschung dieses ideengeschichtlichen Zusammenhangs aus einer an marxscher Theorie orientierten Perspektive immer noch am Anfang steht. Es ist hier notwendig, mit Marx über Marx hinauszugehen.

Eine allerletzte Anmerkung. In der Einleitung von Das Kapital neu lesen verweisen wir auf die Notwendigkeit der „adäquate[n] Kenntnis der von Marx rezipierten Autoren […], welche […] nicht allein aus der Lektüre von Marx´ Manuskripten gewonnen werden kann.“ Bischoffs/Liebers Missverständnisse über die „intellectual history“ des vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus und Hodgskins Rolle darin wären auf der Grundlage einer adäquaten Kenntnis der Werke von Hodgskin, Thompson etc. gar nicht möglich. Diese adäquate Kenntnis kann nur die Lektüre ihrer Werke im Original vermitteln. Die Lektüre der Theorien über den Mehrwert, auf die allein sich Bischoff und Lieber in ihrer Kritik stützen, muss diesbezüglich als Ergänzung, kann aber nicht als Ersatz dienen.

Nicht alle müssen Hodgskin im Original lesen. Aber wer die ‚intellectual history’ des Antikapitalismus begreifen oder darstellen will, wird nicht darum herum kommen. Vielleicht ist es hier auch nicht verkehrt, ausdrücklich klar zu stellen, dass wir nicht vorschlagen, alle, die theoretisch und praktisch für eine Emanzipation der heutigen Gesellschaften von der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise arbeiten, sollten sich von nun an auf radikale Philosophie verlegen. Uns genügt schon, wenn überhaupt anerkannt wird, dass zwar die ‚konkrete Analyse der konkreten Situation’ in dieser Hinsicht die ‚Königsdisziplin’ darstellt, dass es aber keinen ‚Königsweg’ dahin gibt. Gerade deswegen sollten aber auch Bischoff/Lieber zugeben, dass es seinen Nutzen hat, wenn zumindest einige sich der Aufgabe widmen, Hindernisse und Fallstricke philosophisch zu untersuchen, die sich in unseren Erkenntnisprozessen nachhaltig störend bemerkbar machen können, wenn immer nur wissenschaftlich ‚an der Sache’ (und oft genug an der Sache vorbei) diskutiert wird – und auch Marxens langen Weg zum Kapital in dieser Weise nachvollziehen.

Erschienen in: Sozialismus 09/2007, S. 41-47.

Privatisierte Alterssicherung und soziale Konflikte. Ein neues Buch zu Finanzkapital und europäischer Ökonomie

Inzwischen kommen ungefähr 70 bis 80 Prozent aller Gesetze, die im Bundestag beschlossen werden, aus Brüssel. Die EU ist also tagtäglich im politischen Alltag präsent. Mit dieser Organisierung von Sachzwängen wurden der Handlungsspielraum linker Kräfte und der subalternen Klassen in den letzten Jahren verstärkt eingeschränkt. Von der Linken wurde das bisher nie richtig ernst genommen. Das neue Buch von Martin Beckmann zeigt anhand der Veränderung der Alterssicherung die Wechselwirkungen zwischen neuen suprastaatlichen Regulierungsweisen und sozialen Konflikten. Continue reading “Privatisierte Alterssicherung und soziale Konflikte. Ein neues Buch zu Finanzkapital und europäischer Ökonomie”