Vier Tage gemeinsam fragmentiert. Das vierte Europäische Sozialforum (ESF) war dieses Jahr zu Gast in Athen

Vom 4. bis 7. Mai fand in Athen das vierte Europäische Sozialforum (ESF) statt. Die euphorische Stimmung der ersten Jahre ist verflogen. Probleme und Widersprüche treten klarer zu Tage. Auch wenn es bisher keine alternative Möglichkeit einer themen- und strömungsübergreifenden Vernetzung auf europäischer Ebene gibt, müssen neue Formen im Rahmen des ESF gesucht werden, um einer internen Blockade zu entgehen. Sonst wird das ESF in die Belanglosigkeit abdriften.

Mit etwa 20.000 AktivistInnen waren auf dem Athener Sozialforum weit weniger als in den vergangenen Jahren bei den Sozialforen in Florenz, Paris und London. Das liegt nicht allein daran, dass, wie ein attac-Sprecher behauptete, die sozialen Bewegungen in Griechenland schwächer als in anderen Staaten seien. Vielmehr ist die griechische Linke derart fragmentiert, dass das Bild des “offenen Raumes” auf die diesjährige Zusammenkunft kaum zutrifft. Denn neben dem offiziellen Forum gab es nicht nur den “Autonomous Playground”, der sich zumindest kritisch-solidarisch auf das ESF bezieht und inzwischen konstitutiv zum ESF gehört. Es gab zudem das libertär-antiautoritäre anarchistische Forum, das im Athener Polytechnicum stattfand. Aber auch die traditionell-kommunistische Linke hatte eine alternative Veranstaltung, die parallel stattfand. Auf dem “Internationalen, anti-imperialistischen, anti-kapitalistischen Treffen” trafen sich all die, für die das ESF vor allem eine systemintegrierende Veranstaltung ist. Auch die Kommunistische Partei Griechenland (KKE) distanzierte sich vom ESF und rief nicht einmal zur Demonstration am Samstag auf. Diese Zersplitterung und das unsolidarische Verhältnis zeigte sich bitter am Tag der Abschlussdemonstration. Nach einem militanten Angriff auf zwei Banken wurde ein Basisgewerkschaftler der italienischen COBAs von daran beteiligten griechischen Anarchisten so zusammengeschlagen, dass er ins Krankenhaus musste.

So war das diesjährige Sozialforum zwar nicht wie in Paris über die Stadt verteilt, sondern ganz im Gegenteil vom 15 Kilometer entfernten Zentrum auf dem ehemaligen Olympiagelände örtlich verdichtet, aber politisch hoch fragmentiert; bestimmten Spektren bot es keinen Raum für eigene Artikulation.

Während mit etwa 400 Anmeldungen die Beteiligung aus Deutschland hinter die letzten Jahre zurück fällt, waren nicht nur auf Grund der Nähe 1.500 AktivistInnen aus der Türkei zugegen. Auch mit etwa jeweils 1.000 TeilnehmerInnen aus den osteuropäischen Länder veränderte sich der Charakter des ESF merklich.

Das Interesse am ESF bleibt in gewisser Weise ungebrochen. Für die Planung der vier Tage lagen den vorbereitenden Gruppen in Athen fast 900 Anmeldungen für Workshops und Seminare vor. Somit war es notwendig, Veranstaltungen zu streichen oder zusammen zu legen. Dennoch wurden 210 dreistündige Veranstaltungen in drei Schichten durchgeführt, die von den jeweiligen AnmelderInnen vorab koordiniert werden sollten. Das funktionierte eher schlecht als recht. So gab es meist stark von Männern dominierte Podien (die mit einem umgekehrten Geschlechterverhältnis durch das selbstorganisierte Babels-Team übersetzt wurden), die das Publikum mit zu langen und zu vielen Beiträgen meist dazu brachten, die Räumlichkeiten früher zu verlassen. Auf Grund der relativen Nähe der unterschiedlichen Workshops stellte sich alsbald eine allgemeine Wanderbewegung zwischen den Veranstaltungen ein. Nur in wenigen wurde durchgängig und konzentriert gearbeitet, meist dort, wo bereits eine gute Zusammenarbeit oder Vernetzung jenseits des ESF existierte. Für diese Zusammenhänge ist das ESF jedoch nur Anlass einer Zusammenkunft und bietet die notwendige Infrastruktur.

Die Zusammenlegung hatte nicht nur massive Auswirkungen auf den Inhalt der Diskussionen. Auch wurde der eigentliche Anspruch des ESF karikiert. Es war ein Neben-, statt ein Miteinander. Die Relevanz einer gemeinsamen und intensiven Vorbereitung wurde hierbei sicherlich von vielen unterschätzt. An dieser Vorbereitung wird sich die Organisierung der zukünftigen Foren messen lassen müssen, sollen Begriffe wie “Vernetzung” oder “offener Raum”, die das ESF für sich beansprucht, wirklich Substanz haben.

Was sich in den letzten Jahren angebahnt hatte, machte sich in Athen zunehmend bemerkbar: die Dominanz von Parteien. Auch wenn auf dem ESF Parteien ausdrücklich unerwünscht sind, waren sie auf dem Forum präsenter den je. Dass diese verstärkt das ESF selbst zum Anlass nehmen, sich zu koordinieren, zeigen die Treffen vor Beginn des eigentlichen Forums zwischen EuropaparlamentarierInnen. Auch die Linkspartei.PDS, die offiziell zwar nur ein Grußwort verabschiedete, war in Athen durchaus präsent. Während Parteien eigentlich immer noch keinen Raum auf dem ESF bekommen sollen, waren neben Katja Kipping (MdB) auch Helmut Scholz, Heike Hänsel (MdB), Gabi Zimmer (MdEP) sowie Christine Buchholz (WASG-Bundesvorstand) auch als ReferentInnen anwesend. Bisher ist ungeklärt, wie damit umzugehen ist, denn einfach “privat” können Parteimitglieder das ESF kaum besuchen.

Offener Raum nach keinen Seiten offen

Auch wurde der Umstand nicht diskutiert, dass das ESF ohne Unterstützung größerer Parteien kaum möglich wäre. Dieses Jahr spielte vor allem Synaspismos (Abkürzung für Koalition der Linken der Bewegungen und der Ökologie) in der Vorbereitung eine tragende Rolle. Die logistischen und finanziellen Ressourcen der involvierten Parteien sollte nicht unterschätzt werden. Aber auch Gewerkschaften mausern sich zunehmend zu einem unerlässlichen Teil des Forums. Nicht nur als Teil der sozialen Bewegungen, sondern auch als Geldgeber. 500.000 Euro kamen dieses Jahr von den Gewerkschaften. Das deutet auf ein Problem hin, denn für ein Event wie das ESF bedarf es finanzieller Ressourcen. In Paris wies Chirac das Außenministerium an, 500.000 Euro für das ESF beizusteuern. In London spendete Bürgermeister Livingston 580.000 Euro für Logistik und Ausführung. Dies alles ist wohl auch ein Grund, warum es schwer ist, für das fünfte ESF einen Gastgeber zu finden. Bisher ist Brüssel im Gespräch.

Ingo Stützle

Erschienen in: ak – analyse & kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 506 v. 19.5.2006, S. 28