Ideal und Wirklichkeit. Freihandelstheoretiker und ihre Kritiker haben einiges gemeinsam

Nicht nur die Praxis, auch die Theorie des weltweiten Freihandels ist Jahrhunderte alt. Doch was sind ihre Grundannahmen, und wie schließen die heutigen Neoliberalen und WTO-Befürworter daran an? Auch die Kritik am Freihandel entstand nicht erst mit der globalisierungskritischen Bewegung. Trifft sie ihren Gegenstand, oder unterminieren bestimmte Formen von Kritik ihren antikapitalistischen Anspruch?

Mit der neoliberalen Wende seit den 1970er Jahren ist ein alter Schlachtruf wieder in aller Munde: »Laissez faire et laissez passer«. Diese Parole ist wohl auf Jacques Vincent de Gournay zurückzuführen, der in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhundert wie viele französische Kaufleute für die Befreiung vom Merkantilismus plädierte. Für den Merkantilismus als wirtschaftspolitisches Theorem des Absolutismus hatte der »Reichtum der Nationen« (Adam Smith) vor allem eine Ursache: der Exportüberschuss, der sich in einer aktiven Handelsbilanz ausdrückte. Mit dieser Vorstellung war eine bestimmte Politik verbunden: Niedrige Ausfuhrzölle, hohe Einfuhrzölle, Förderung des Transportwesens, Erweiterung und Regulierung des inneren Marktes usw. Der dem Handel zugesprochene produktive Charakter wurde unter Umständen auch gewaltsam erzwungen. Die Kolonisierung der Welt zur Sicherung von Rohstoffen, Handelsstrukturen und Absatzmärkten haben im Merkantilismus ihren Anfang.

Diese Politik hatte jedoch auch in Europa selbst negative Auswirkungen, vor deren Hintergrund der freihändlerische Schlachtruf entstand. In Frankreich wurde die Landwirtschaft durch die hohe Besteuerung der Landwirte und die Getreidepreisbindung, welche die Löhne für die Manufakturen niedrig halten sollten, fast vollständig ruiniert. Hinzu kam, dass die aristokratischen Grundherren durch Steigerung der Pachtzinsen ihre Einkünfte erhöhen wollten. Hier setzten die Physiokraten an, die im Gegensatz zu merkantilistischen Vorstellungen davon ausgingen, dass allein die landwirtschaftliche Produktion produktiv sei. Freihandel hatte für François Quesnay (1694-1774), dem wichtigsten Vertreter der Physiokraten, vor allem den Zweck, die gegängelte (Land-)Wirtschaft zu stärken. Damit könnte die Versorgung gewährleistet und bei Krisen und Missernten Abhilfe geschaffen werden, da ohne Handelsbeschränkungen eine ausgleichende Versorgung der Provinzen sichergestellt werden könnte.

Auch in späteren Auseinandersetzungen spielte das Getreide eine zentrale Rolle. In der ersten Hälfte des 19.Jh. setzte das aufstrebende industrielle Kapital in England alle Hebel in Bewegung, um die Abschaffung der so genannten Korngesetze durchzusetzen. »Cheap food, high wages« war bereits damals die demagogische Parole der Freihändler, die als erste politisch organisierte Bewegung der neuen industriellen Bourgeoisie versuchten, die breite Bevölkerung vom Freihandel zu überzeugen. Die damalige Argumentation ist auch heute noch von zentraler Bedeutung: Zölle auf Getreide verteuern die Lebensmittelkosten und senken die Reallöhne.

Kosten und andere Vorteile
Der Klassiker unter den Freihandelstheoretikern ist David Ricardo (1772-1823). Bis heute bildet sein Theorem der »komparativen Kostenvorteile« die Grundlage aller Freihandelstheorien. Die Grundidee ist simpel: Im Gegensatz zu Adam Smith ging Ricardo davon aus, dass es keinen absoluten Produktionskostenvorteil eines Landes gegenüber einem anderen geben muss, damit der Reichtum in einem Land steigt. Ricardo ging dagegen von den relativen Preisverhältnissen (da er vom Geld abstrahiert, eigentlich von Tauschverhältnissen) unterschiedlicher Güter aus, die ihm zufolge wiederum durch die Arbeitskosten bestimmt sind.

Voraussetzung für seine weitere Überlegung ist, dass sich durch internationale Konkurrenz und Kapitalbewegungen keine globale Profitrate erstellt. Damit bestimmt sich Ricardo zufolge der Wert auf dem internationalen Markt anders als innerhalb eines Landes. Wenn sich nun die Länder auf die Produktionszweige spezialisieren, in denen sie im Verhältnis zu anderen Ländern billiger produzieren, dann ergibt sich ein positiver Effekt für alle Länder, weil sie die gegebenen Ressourcen von der unrentablen in die effizientere Produktion verlagern. Das von Ricardo selbst angeführte Beispiel verdeutlicht seine Überlegungen: England und Portugal benötigen für die Produktion von Tuch und Wein jeweils eine bestimmte Arbeitsmenge je Wareneinheit. Deren Gesamtmenge könnte laut Ricardo jedoch effektiver eingesetzt werden, wenn sich beide Länder auf die Produktion spezialisieren, in der sie vergleichsweise, d.h. komparativ besser sind. Beide Länder könnten so ihre verfügbare Arbeitszeit effektiver einsetzen und durch den Tausch der insgesamt größeren Masse an Gebrauchswerten einen Wohlfahrtsgewinn realisieren. Diese effizienzsteigernde Wirkung der internationalen Arbeitsteilung wird spätestens seit Ricardo systematisch theoretisiert. Von Befürwortern wie Kritikern wurde dieses Theorem in seinen Grundannahmen meist akzeptiert und lediglich anders ausgelegt oder kritisch reformuliert.

Die erste Weiterentwicklung der Überlegungen von Ricardo stammt von John Stuart Mill (1806-1873), der sowohl klassisch, arbeitswerttheoretisch wie Ricardo als auch neoklassisch, rein preistheoretisch argumentierte (zur Neoklassik siehe unten). Er ging von einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht mit einem gleichgewichtigen Wechselkurs und damit einem gleichgewichtigen System von relativen Preisen aus, mit welchem über Export und Import Angebot und Nachfrage in allen Ländern zur Deckung kommen. Über den Wechselkurs und damit die veränderte Kaufkraft einer Währung für ein bestimmtes Gut in einer anderen Währung (terms of trade) wird Mill zufolge die internationale Struktur von Angebot und Nachfrage so lange »reguliert«, bis diese zur Deckung kommen.

Das Herz der Freihandelstheorie
Die heutige Idee vom freien Handel ist ohne die Neoklassik weder vorstellbar noch zu erklären. Vor allem die neoklassische Preistheorie und die daraus entwickelte allgemeine Gleichgewichtstheorie sind zentrales Fundament des Freihandelsparadigmas. Die Grundlagen der Neoklassik, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. die klassische Nationalökonomie (Smith, Ricardo u.a.) weiterentwickelte, beruhen im Grunde auf normativen Aussagen: Es wird ein ideales Verhalten der wirtschaftenden Menschen konstruiert, welches eine optimale Situation des Gleichgewichts und ideale Bedürfnisbefriedigung ermöglicht. Ausgangspunkt ist die Vorstellung, dass auf der einen Seite die Bedürfnisse der Individuen unendlich sind, die Ressourcen zu ihrer Befriedigung dagegen endlich. Damit entsteht für die Subjekte der Zwang zu Arbeitsteilung und Tausch – gerade auch international. Treten keine externen Schocks (z.B. Kriege oder Naturkatastrophen) auf, ist der Markt ein endogen stabiles System. In diesem Gleichgewicht gibt es ein Ensemble von relativen Preisen, die keinen mehr besser stellen können, ohne dass gleichzeitig andere MarktteilnehmerInnen schlechter gestellt werden (so genanntes Pareto-Optimum).

Grundlegend für die Neoklassik ist die Trennung von monetärer und realer Sphäre. Es herrscht eine »Zwei-Welten-Lehre«, die streng zwischen der Sphäre der Preise und Geldmengen auf der einen Seite und physischer Produktion von Gütern sowie den dazu nötigen Produktionseinheiten auf der anderen Seite unterscheidet. Diese Unterscheidung kommt auch bei der Außenwirtschaft zur Geltung.

Bei den monetären außenwirtschaftlichen Aktivitäten kommt vor allem der Devisenmarkt in Betracht. Angebot und Nachfrage von Währungen bestimmen hier den Wechselkurs, Geld existiert nur als Währung neben anderen Währungen, ohne Bezug auf die »reale« Produktion. Es können zwei Szenarien unterschieden werden. Einmal in einem System fester Wechselkurse (wie zum Beispiel das von Bretton Woods bis 1973) und einmal im System flexibler Wechselkurse, wie es heute weitgehend gegeben ist. Bei letzterem bleibt für die Neoklassik das Theorem des Gleichgewichts zentral. Langfristig gilt im System flexibler Wechselkurse bei Kaufkraftparität ein Gleichgewicht zwischen den Währungen. Der Wechselkurs ist durch die Relation der Preisniveaus bestimmt. Verändert sich dieses in einem Land, verschlechtert sich die Wettbewerbsfähigkeit des Landes. Exporte nehmen ab und Importe zu. Das bedeutet, dass eine erhöhte Nachfrage nach Devisen dazu führt, dass die inländische Währung gegenüber der ausländischen so weit abgewertet wird, bis die Nachfrage nach Devisen befriedigt ist. Damit ist erneut ein Gleichgewicht zwischen den beiden Währungen hergestellt. Der Neoklassik zufolge ist somit durch den freien Wechselkurs (d.h. keine Handelsbeschränkungen für Devisen und Kapitalmärkte) eine perfekte Abschirmung gegen importierte Inflation aus dem Ausland möglich. Damit wird deutlich, dass die Neoklassik, deren höchstes Gut die Preisstabilität ist, für freien Handel auf den Devisenmärkten und flexible Wechselkurse plädiert.

Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Freihandel mit Gütern wieder verstärkt Gegenstand der neoklassischen Theorie. Insbesondere die Spezialisierung der einzelnen Länder aufgrund unterschiedlicher Ausstattung von Kapital und Arbeit rückte in den Mittelpunkt der Analysen. Zunächst wurde in den 1930er Jahren im so genannten Heckscher-Ohlin-Theorem behauptet, dass sich Länder unter Effizienzkalkülen entlang der Intensität von Arbeit und Kapital spezialisieren. Wohlfahrtsgewinne seien vor allem dann zu erzielen, wenn sich Länder auf die Produktion spezialisieren, für die sie prädestiniert sind: Portugal etwa durch niedrige Lohnkosten und England durch Geldkapital. Nachdem festgestellt wurde, dass dieses Theorem empirisch nicht haltbar war, wurde es im Stolper-Samuelson-Theorem mit der Argumentation gerettet, dass nicht von einer Homogenität der Ware Arbeitskraft ausgegangen werden könne. Stolper/ Samuelson erklärten, dass bei erhöhter Nachfrage nach einem Gut und damit steigenden Löhnen in diesem Sektor die Löhne für die Produktion eines anderen Gutes sinken. Mit der Aufnahme von Handelsbeziehungen und den damit einhergehenden Wohlfahrtsgewinnen seien demzufolge immer Einkommensumverteilungen verbunden. Wesentliche Aussagen der klassischen wie der neoklassischen Außenhandelstheorie lassen sich bereits im Rahmen ihrer eigenen theoretischen Grundlage kritisieren: Ricardos Argument vom komparativen Kostenvorteil ist nur gültig, wenn vom Zins abgesehen wird und eine (Handels-)Welt mit nur einem einzigen Gut vorausgesetzt wird. Nur so wären die Preisverhältnisse ausschließlich durch Technologie bestimmt. Dies ist jedoch eine geradezu irrwitzige Annahme für den internationalen Handel, wo es gerade darum geht, unterschiedliche Güter zu tauschen. Ohne diese Annahme und unter Einbeziehung der Verteilung von Zins- und Lohnsatz ist weder ein klarer Zusammenhang der Preisentwicklung in den unterschiedlichen Ländern konstatierbar, noch kann eine Aussage über Vorteile einer kapital- oder arbeitsintensiven Produktion getroffen werden. Die suggerierten klaren Zusammenhänge, auf welchen alle Erklärungen der (neo)klassischen Freihandelstheorien bauen, sind somit in ihrem Kern zerstört.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die neoklassische Wirtschaftstheorie zunächst einen schlechten Stand, da sie sich als unfähig erwiesen hatte, eine Antwort auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 zu finden. Doch trotz dieser Krise der ökonomischen Theorie wurde politisch im Rahmen des Systems von »Bretton Woods« und den GATT/ WTO-Runden unter der Hegemonie der USA auf die Etablierung eines möglichst freien Weltmarkts gedrängt. Etappenweise fand weltweit eine Internationalisierung des produktiven Kapitals und schließlich des Geldkapitals statt. Mit letzterem kann auch die neue Qualität der Globalisierung herausgestellt werden, nämlich dass sich eine globale Durchschnittsprofitrate etabliert, an der sich alle Verwertungsmöglichkeiten in Konkurrenz um das Geldkapital messen lassen müssen.

Die neoliberale Freihandelsideologie, wie sie sich nach dem Ende des real existierenden Sozialismus nahezu allgemein durchsetzte, ist im Kern nichts Neues und schließt nur an allgemeine neoklassische Argumentationen an. Es gab in ihrem Rahmen keinen Versuch, eine neue integrierte Theorie zu formulieren, lediglich Akzentuierungen. So wird etwa ins Feld geführt, dass die Transaktionskosten durch den Freihandel sichtlich gesenkt werden können und sich somit ein allgemeiner Wohlfahrtseffekt einstellt. Desweiteren wird argumentiert, dass durch die vertiefte weltweite Arbeitsteilung eine Steigerung der Produktivkräfte ermöglicht wird. Inzwischen ist mit dem Buch »Free Trade Today« (2002) von Jagdish Bhagwati, einem Anwärter auf den Nobelpreis für Ökonomie, die wirtschaftstheoretische Zunft dort angelangt, wo sich bereits die klassische Freihandelsbewegung im 17. und 18. Jahrhundert versucht hat: der Bevölkerung allgemeinverständlich nahe zu bringen, warum der Freihandel zu ihrem Besten ist.

Die Theorien sind schön …
Fast genauso alt wie die Theorie und Praxis des Freihandels ist die Kritik daran. Diese bewegt sich jedoch auf unterschiedlichen Ebenen, und nicht selten trifft sie ihren Gegenstand eher schlecht als recht.
Eine erste Kritiklinie versucht Ricardos Theorem von den komparativen Kostenvorteilen kritisch zu reformulieren oder dessen kritische Punkte auszuleuchten. So argumentierten beispielsweise viele Dependenztheoretiker, dass im Falle von Dritte-Welt-Ländern mit einer Spezialisierung der Produktion eine zunehmende Abhängigkeit vom Welthandel verbunden sei und somit die Gefahr von Krisen. Bei einseitiger Ausrichtung auf landwirtschaftliche Produktion mache sich ein Land von der Witterung abhängig, und die Monokultur wirke sich nachteilig auf die Qualität der Produkte und auf die natürlichen Ressourcen wie z.B. Böden aus.

Andere Dependenztheoretiker wie Arghiri Emmanuel, aber auch Marxisten wie Ernest Mandel betonten darüber hinaus in den 1960er und 70er Jahren im Anschluss an die marxsche Werttheorie den »ungleichen Tausch« zwischen den verschiedenen Ländern. Die Ausbeutung der Dritten Welt wurde von ihnen als Werttransfer gedacht. So geht Emmanuel davon aus, dass die Lohnunterschiede zwischen Peripherie und Zentrum größer seien als die Niveaus der Produktivität. Deshalb kann er auf Grundlage der ricardianischen Theorie der komparativen Kosten davon ausgehen, dass ein einseitiger Transfer von Werten stattfindet, und zwar von Süd nach Nord. Diese Grundüberlegung liegt auch der Fair-Trade-Bewegung zugrunde. Wie die »ricardianischen« Sozialisten des 19. Jahrhundert einen gerechten Lohn einforderten, geht die Fair-Trade-Bewegung davon aus, dass die Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse des kapitalistischen Weltsystems durch »gerechte« Preise aufgebrochen werden können. Es wird somit ein bürgerliches Ideal, der gerechte Preis, gegenüber einer räuberischen Praxis, dem ungleichen und ungerechten Tausch, eingeklagt.

Das Theorem vom »ungleichen Tausch« wurde schon früh kritisiert, denn es beruht auf einer überkommenen marxistischen Werttheorie, die ähnlich wie Klassik und Neoklassik eine »Zwei-Welten-Lehre« vertritt. Das Geld dient, wie in der Neoklassik, nur als Schmiermittel des Tausches. Damit lässt sich die Vorstellung vom ungleichen Tausch bereits in den Grundannahmen in Frage stellen, weil sie lediglich einen Tausch von Arbeitsquanten unterstellt (etwa wenn in einem Produkt aus Afrika 20 Arbeitsstunden stecken, während in dem dagegen eingetauschten Produkt aus Deutschland nur eine Arbeitsstunde enthalten ist). In seiner naturalistischen Annahme von Arbeit, Ware und Wert unterschlägt das Theorem vom ungerechten Tausch jedoch den konstitutiven Charakter des Geldes, ohne welches überhaupt nicht von Wert gesprochen werden kann und welches eine untrennbare konstitutive Relevanz für den kapitalistischen Gesamtzusammenhang und damit auch für Lohnarbeit, ‚reale’ Produktion und Tauschvorgänge hat.

… aber die Realität ist hässlich
Eine zweite Form der Kritik, die insbesondere vom reformorientierten Flügel der heutigen globalisierungskritischen Bewegung formuliert wird, vergleicht das Ideal des Freihandels mit der Wirklichkeit. Der Freihandel wird gemäß seinen eigenen Maßstäben daran gemessen, was er als Befriedungs- und Demokratisierungsstrategie, als Wohltäter für Reich und Arm und Garant für ökonomische Stabilität leistet. In diesem Zusammenhang wird oft die widersprüchliche Politik der Industriestaaten kritisiert, vor allem die auf Freihandel drängenden USA und die EU, die zugleich manche heimische Wirtschaftssektoren mit hohen Zöllen oder Subventionen schützen. Auch im Zusammenhang mit protektionistischen Maßnahmen – die mal als unabdingbare Voraussetzung für Industrialisierungsprozesse in Dritte-Welt-Ländern, mal als Abschottung der Industrieländer gegen Produkte aus dem Süden interpretiert werden – wird die staatliche Wirtschaftspolitik von dieser Warte aus kritisiert.

Diese Form der Kritik misst zwar die Freihandelstheorie an ihren eigenen Ansprüchen und kann somit ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen. Die Vorstellung, dass der Staat eins zu eins für eine Umsetzung ökonomietheoretischer Konzepte wie der Freihandeltheorie zuständig ist, trifft jedoch wenig. Weil es dieser Form der Kritik an einer Staatstheorie fehlt, wird verkannt, dass der Staat in seiner Form und Funktionsweise einen »ideellen Gesamtkapitalisten« darstellt. Dieser kann sich durchaus auch gegen einzelne Kapitalfraktionen richten, wenn es erforderlich scheint.

Dies kann an einem Beispiel verdeutlicht werden. Ende März 2003 mussten die USA vor der WTO eine Niederlage im Streit um ihre 30prozentigen Schutzzölle auf Stahlimporte einstecken. US-amerikanische Stahlerzeuger und Gewerkschaften waren angesichts dieses Schiedsspruchs der WTO beunruhigt, Zuspruch kam hingegen von der stahlverarbeitenden Industrie, zu deren Vorteil fortan die staatliche Zollpolitik gestaltet wurde. Die Stahlunternehmer mussten sich ebenso wie die StahlarbeiterInnen damit abfinden, dass das Interesse der stahlverarbeitenden Industrie an billigem ausländischen Stahl Berücksichtigung fand. Hier wird deutlich, dass weder das gesamte Kapital ein Interesse an Freihandel hat, noch dass eine Kapitalfraktion unmittelbar die staatliche Politik bestimmen kann. Beide Momente kommen in der Freihandelskritik meist zu kurz.

Das Beispiel verdeutlicht darüber hinaus, dass der »Handelskrieg« um den Stahl ohne unmittelbare Gewalt und kriegerische Auseinandersetzungen auskam, er aber eine dritte, vermittelnde Instanz benötigte. Ausbeutung und Herrschaft findet heute nicht (mehr) in der Form von Raubzügen und Plünderungen statt, sondern in der Form des stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse. Frei von persönlichen Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnissen wird in einer fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft das Privateigentum vom Staat garantiert, der relativ autonom von allen Klassen und Klassenfraktionen existiert. Auf nationaler Ebene formuliert erst der Staat so etwas wie ein allgemeines Interesse des Kapitals. Davor stehen die Einzelkapitale in Konkurrenz zueinander. Über Aushandlungsprozesse in der bürgerlichen Öffentlichkeit und im Diskurs um das »Allgemeinwohl« setzt der Staat ein allgemeines Kapitalinteresse nicht nur gegen, sondern auch mit Zustimmung der ausgebeuteten Klasse durch und bringt somit alle Interessen in einen herrschaftsförmigen Konsens.

Auf internationaler Ebene gilt ähnliches: Die Staaten verhalten sich ebenso wie die Bürger als formal freie und gleiche (Völkerrechts-)Subjekte zueinander. Das ‚globale Allgemeinwohl’, welches das Allgemeinwohl der mehr oder weniger kapitalistischen Einzelstaaten darstellt, wird unter der Führung einer Hegemonialmacht im Rahmen von internationalen Institutionen wie der WTO ausgehandelt und formuliert. In diesen politischen Formen organisieren die Staaten internationalen Wettbewerb. Damit ist klar, dass kapitalistische Ökonomie sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene nicht ohne Staatlichkeit und politische Institutionen möglich ist. Markt und Staat sind zwar unterschiedliche gesellschaftliche Strukturierungsmodi. Eine Gegenüberstellung, bei der der Staat als positives Gegengewicht zum Markt dargestellt wird, verhindert jedoch nur die Etablierung einer emanzipatorischen Kapitalismuskritik.

Gewalt, Lug und Trug?
In einer dritten Form der Kritik, die sich selbst oft als radikal versteht, wird Freihandel als ideologischer Schein einer im Kern räuberischen und gewalttätigen Herrschaftsausübung gebrandmarkt. Außenwirtschaft wird auf unmittelbare Gewaltakte, Raubwirtschaft und Plünderungszüge reduziert. Diese Form der Kritik kann bis auf die Imperialismustheorien von Lenin und Rosa Luxemburg zurückverfolgt werden. Mit diesen begann eine Debatte um die »Vermachtung von Märkten«, gemäß der die Freiheit und Gleichheit im Tausch abgelöst wird von mächtigen Monopolen, die Monopolprofite durchsetzen – allem Gerede vom Freihandel zum Trotz mit protektionistischen Maßnahmen.

Diese Form antiimperialistischer Kritik findet sich bis heute in jeglicher Couleur, etwa bei Noam Chomsky, einer Leitfigur der globalisierungskritischen Bewegung. Er geht in anarchistischer Tradition affirmativ von bürgerlichen Formen von Freiheit und Gleichheit aus und kritisiert dann deren mangelhafte Umsetzung sowie die damit verbundenen personalen Herrschaftsverhältnisse. So heißt es in seinem Buch »War against People« (2003), Privatkonzerne seien eine »Form privatisierter Tyrannei«. Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus scheine es keine »Alternative zu dem System eines von Staat und Konzernen betriebenen Merkantilismus [zu geben], das sich hinter Zauberformeln wie ‚Globalisierung’ oder ‚Freihandel’ versteckt.« Für Chomsky laufen vom Freihandel »vielleicht 70 Prozent der grenzüberschreitenden Transaktionen (die zu Unrecht ‚Handel’ genannt werden) tatsächlich innerhalb von zentral gesteuerten Institutionen« ab, und zwar »in Konzernen und Konzernverbindungen«, was eine »marktwidrige Wettbewerbsverzerrung« darstelle. Auch bei den so genannten Handelsabkommen gehe es »nicht um Freihandel«, sondern »diese Abkommen haben sehr stark gegen den Markt gerichtete Elemente«.

Der Markt erscheint somit bei Chomsky als Ideal und eben nicht als Instanz, die den nicht-personalen Zwang der ökonomischen Verhältnisse exekutiert. Gegenstand seiner Kritik ist nicht der Freihandel als konkrete Form bürgerlicher Tauschverhältnisse, sondern dessen angebliche Perversion durch einzelne Staaten, Konzerne und deren Tycoons. In bürgerlichen Gesellschaften ist die herrschende Form der Reproduktion jedoch weder durch persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, noch durch unmittelbaren Einsatz von Gewalt bei der Abpressung eines Mehrprodukts gekennzeichnet (wie z.B. Leibeigenschaft, Sklaverei). Zwar existieren diese Formen immer noch, besonders in nicht stabilen bürgerlichen Gesellschaften. Aber immer dort, wo sie auftreten, benötigen sie eine besondere ideologische (oft religiöse) Legitimierung, die mit Freihandelstheorie in der Regel nicht viel zu tun hat.

In seiner Kritik der politischen Ökonomie konnte Marx erklären, wie sich Ausbeutung und Herrschaft unter bürgerlichen Verhältnissen darstellen. In seinem Hauptwerk Kapital zeigte er, dass sich diese nicht-personalen Verhältnisse gegenständlich in Ware, Geld, Kapital und anderen ökonomischen Formen ausdrücken. Das Problem an den oben skizzierten Formen der Kritik an Freihandelstheorie ist demgegenüber, dass die kapitalistische Produktionsweise in ihrem »idealen Durchschnitt« (Marx) gerade nicht Gegenstand von Kritik ist. Vielmehr wird ein kapitalistisches Ideal gegenüber einer schlechten, durchaus existenten Realität eingeklagt. Herrschaftskritisch mögen diese Formen der Kritik am Freihandel sein, mit einem avancierten kritischen Verständnis von Kapitalismus ist es dagegen nicht weit her.

Ingo Stützle

Eine kommentierte Literaturliste zu diesem Text ist unter www.iz3w.org zu finden.

Erschienen in: iz3w, Nr.289, 2005